• Immer mehr Hilfsbedürftige nutzen das Angebot der Gassechuchi: Präsidentin Esther Schönmann (ganz links) muss oft lange suchen, um auf ihrer Liste die anspruchsberechtigten Personen zu finden. Erst dann wird ihnen ein Nummernzettel abgegeben. · Bilder: Patrick Jordi

  • Regina Cap, André Spahr und Monika Ammann (von links) haben nach wie vor Freude an ihrer Helfertätigkeit, auch wenn die Klientel in einigen Fällen recht anspruchsvoll ist.

  • Die beiden Gassechuchi-Urgesteine: Esther Schönmann und Hans Ruedi Leuthold.

15.09.2023
Langenthal

Helfer-Gene werden auf die Probe gestellt

Die aktuelle Klientel der Gassechuchi Langenthal ist eine komplett andere als noch vor ein paar Jahren: Früher wurde eine überblickbare Gruppe von sozial schwächer gestellten Menschen mit Gratismahlzeiten versorgt; heute werden vor allem Lebensmittel, Haushaltswaren und Kleider an eine stetig wachsende Anzahl Bedürftiger abgegeben. Unter ihnen gibt es solche, die mutmasslich zu Unrecht profitieren oder sogar Forderungen stellen. Keine einfache Situation für den Verein und seine freiwilligen Helferinnen und Helfer.

Gassechuchi · Ein strahlendblauer Vormittag im Spätsommer. Gassechuchi-Präsidentin Esther Schönmann (81) nimmt ihren Platz am runden Stehtischchen vor dem Wooghüsli ein. Diesmal mit aufgespanntem Schirm, weil die Sonne dermassen vom Himmel knallt. Hinter dem Stehtischchen, zwischen Absperrgittern der Stadt Langenthal, hat sich bereits eine lange Menschenschlange gebildet.
«Kannst du mir bitte noch einmal deinen Namen sagen?», fragt Esther Schönmann auf Englisch, während sie in einer mehrseitigen Liste blättert und angestrengt die einzelnen Seiten durchgeht. Eine Frau, die zuvorderst in der Kolonne steht, tut, wie ihr geheissen. Ohne Erfolg: Schönmann kann den Namen trotz wiederholter Nennung nicht ausfindig machen. «Eine Person, die offensichtlich zum ersten Mal bei uns ist», gibt sie zu verstehen. Etwas, das in letzter Zeit häufiger vorkomme.
Die Frau kann vor Ort einen Schweizer Ausweis S (für Schutzbedürftige) vorweisen. Schönmann händigt ihr ein nummeriertes Zettelchen aus und notiert ihren Namen. «Für die nächsten Male, aus Erfahrung.» Denn die Chancen dafür, dass die betreffende Person auch in den kommenden Wochen regelmässig beim Wooghüsli vorbeischauen wird, stehen hoch. Neue Gesichter lassen sich hier nämlich immer öfters blicken.

Über 150 Taschen mit Esswaren
Rund 530 Namen stehen inzwischen auf Esther Schönmanns Liste, Tendenz steigend. Viele der aufgeführten Personen erscheinen regelmässig bei der Markthalle, wo der Verein Gassechuchi im benachbarten Wooghüsli seine überschaubaren Lagerräume betreiben darf. Die Räumlichkeiten werden von der Stadt zur Verfügung gestellt. Jeden Mittwoch werden hier über 150 Taschen an Bedürftige abgegeben – Taschen, prallgefüllt mit Esswaren und Lebensmitteln. Ausgehändigt werden sie gegen einen symbolischen Beitrag von zwei Franken. Daneben können vor Ort Kleider und Haushaltswaren bezogen werden. Gratis.
Offenkundig ist, warum die Anzahl Bedürftiger in jüngster Vergangenheit derart stark zugenommen hat: «Der Krieg in der Ukraine hat uns viele Leute gebracht», so Esther Schönmann. Müsste sie die Herkunft aller Menschen, die auf ihrer Liste vermerkt sind, benennen, würde sie schätzen, dass inzwischen rund 60 Prozent der Gassechuchi-Klientel aus der Ukraine stammen. Weitere rund 35 Prozent sind gemäss ihrer Schätzung Menschen mit arabischer oder afrikanischer Herkunft. «Derweil machen bedürftige Schweizerinnen und Schweizer vielleicht gerade noch fünf Prozent aus», komplettiert Esther Schönmann die Grobschätzung.

Keine Gassenküche mehr
Für die Gassechuchi ist diese Aufschlüsselung insofern von grosser Bedeutung, weil sie aufzeigt, mit welcher Heftigkeit sich die Klientel des Vereins verändert hat. Dadurch, dass in den letzten Jahren auch in Langenthal und in den umliegenden Gemeinden sehr viele Schutzbedürftige aus der Ukraine und/oder dem arabischen beziehungs­weise afrikanischen Raum untergebracht worden sind, ist deren Anteil an der Gesamtklientel grösser und grösser geworden. Und parallel zu dieser Entwicklung haben sich die Bedürfnisse verändert: «Die Menschen aus dem Ausland scheinen es zu bevorzugen, wenn sie Taschen mit Lebensmitteln sowie Kleider und Haushaltswaren bei uns beziehen können», sagt Esther Schönmann.
Von einer Gassenküche im ursprünglichen Sinn könne inzwischen keine Rede mehr sein, so die 81-Jährige, die 2015 vom Schweizer Radio und Fernsehen SRF für ihr langjähriges, unermüdliches Sozialengagement mit dem Titel «Heldin des Alltags» ausgezeichnet worden war. «Unser Angebot hat sich seit der Pandemie und seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine stark verändert – wir haben es den Umständen und den Leuten angepasst, die uns seither vermehrt aufsuchen», sagt sie.

Verkehrte Welt
Tatsächlich hatte auch Corona einige nicht unerhebliche Auswirkungen auf den Verein. Aufgrund der Einschränkungen durch die Pandemie war es mit der «Gassechuchi» – also mit der wöchentlichen Ausgabe einer warmen Mahlzeit an Bedürftige – schlagartig vor­bei. Dieser Moment war für den Verein wie eine Zäsur: In den Jahren vor der Pandemie stand eindeutig die Mahlzeitenabgabe im Vordergrund; das Verteilen von Lebensmitteln sowie Kleidern lief dagegen eher nebenher. Mit Corona nahm die Verteilung von Gütern dann aber sehr schnell Überhand; derweil die Küchenaktivitäten der Gassechuchi bis heute nicht wieder aufgenommen wurden.
«Es ist nicht etwa so, dass wir keine Lust mehr hätten, für die Menschen zu kochen und ihnen eine warme Mahlzeit abzugeben», beteuert Hans Ruedi Leuthold (81). Wer ihn kennt – das zweite Gassechuchi-Urgestein nebst Esther Schönmann –, weiss nur zu gut, dass sich der talentierte Hobby-Koch selten lange bitten lässt, wenn es darum geht, den Kochlöffel zu schwingen. Aber seine Kochkünste sind derzeit im Umfeld der Bedürftigen, die grossmehrheitlich auf Lebensmittel, Haushaltswaren und Kleider hoffen, schlicht­weg nicht mehr so gefragt wie einst.

Und wo sind denn die «Wuhrplätzler» abgeblieben?
«Der soziale Ursprungsgedanke der Gassechuchi ist nicht mehr der gleiche wie früher», sagt Regina Cap, die im Wooghüsli gerade dabei ist, ein Regal mit lagerbaren Esswaren zu sortieren. Die freiwillige Helferin aus Langenthal spricht etwas an, das offensichtlich ist: Die stadtbekannten Ge­sichter vom Wuhrplatz – teils alleinstehende und einsame Menschen, einige von ihnen drogen- oder alkoholabhängig – kann man an diesem Morgen überhaupt nicht ausmachen. Sie, die früher die Hauptzielgruppe der Gassechuchi waren, kämen heute nur noch selten vorbei, weiss Regina Cap. Ihnen scheinen der Menschenauflauf und das Gerangel um die Waren nicht ganz geheuer zu sein.
Oder womöglich ist es so, dass dieser einstigen «Hauptzielgruppe» die Mahlzeitenabgabe deutlich mehr entgegenkam als das jetzige Angebot.  Immerhin: «Mit unseren altbekannten Leuten von der Gasse haben wir die mündliche Übereinkunft getroffen, dass sie vom Essens- und Kleiderangebot profitieren dürfen, bevor hier im Wooghüsli der grosse Trubel losgeht – sie dürfen am selben Vormittag etwas früher bei uns vorbeikommen», lässt Esther Schönmann durchblicken. Einige «Wuhrplätzler» und Personen aus diesem Umfeld würden das Angebot der Gassechuchi also weiterhin nutzen. Doch auch Esther Schönmann muss Regina Cap recht geben: «Es ist nicht mehr dasselbe wie früher.»

Hauptmotivation ist eine andere
Wer sich bei den Helferinnen und Helfern umhört, merkt schnell, dass soziale Neigungen und Einstellungen derzeit nur noch in zweiter Linie die Triebfeder dazu sind, um beim Verein aktiv mitzuhelfen. «Unsere Hauptmotivation ist im Moment, dass wir mit der Abgabe von Lebensmitteln wirklich enorm viel zur Vermeidung von Food-Waste beitragen können», verrät Esther Schönmann.
Wie bitte? Mitgefühl und Hilfsbereitschaft stehen nicht mehr über allem?
Es sind in der Tat vielsagende Sätze, die Esther Schönmann in diesem Zusammenhang von sich gibt. Ausgerechnet von ihr. Eine wesentlich sozialer denkende und handelnde Person als Schönmann lässt sich im Oberaargau kaum finden …
«Versteht mich bitte nicht falsch», sagt sie in die Runde. «Das, was wir hier Woche für Woche machen, ist nach wie vor sehr sinnvoll. Viele Menschen, die es absolut nötig haben, profitieren davon, was der Verein Gassechuchi leistet. Doch von Zeit zu Zeit werden unsere Helfer-Gene sowie unsere Motivation schon ziemlich stark auf die Probe gestellt», meint die Aarwangerin. Die anderen Ehrenamtlichen – insgesamt sieben Frauen und vier Männer – pflichten ihr bei.
Konkret meint sie damit, dass es Leute gibt, die mutmasslich zu Unrecht von den Leistungen der Gassechuchi profitieren. Menschen, denen es offensichtlich nicht allzu schlecht geht, die sich aber trotzdem Mittwoch für Mittwoch in die Kolonne der Lebensmittelabgabe einreihen. Oder Familienverbände, die unterschiedliche Mitglieder derselben Familie beim Woog­hüsli vorbeischicken, um pro Woche gleich mehrere Taschen mitnehmen zu können. Wohlgemerkt: Pro Woche und Familie kann aus Kapazitätsgründen bloss eine mit Lebensmitteln gefüllte Tasche abgegeben werden. Den Bogen deutlich überspannen würden aber diejenigen Personen, die während der Abgabe auch noch Forderungen stellen würden – ganz nach dem Motto: «Heute mal lieber Eier als Kartoffeln!».

Die grosse Mehrheit ist dankbar
Es sei schwierig, mit Fällen wie diesen umzugehen, sind sich die Helfenden einig. Die Lust, sich für die Gassechuchi zu engagieren, hat trotzdem niemand verloren. Über missbräuchliches und dreistes Verhalten wird grosszügig hinweggesehen. «Es sind Einzelpersonen, die es sich herausnehmen, Forderungen zu stellen», betont Esther Schönmann. Und in Relation zur Gesamtklientel sei es nur eine kleine Minderheit, die ungerechtfertigterweise von Lebensmittelbezügen profitieren würde. «Die allermeisten Menschen, die zu uns kommen, sind enorm dankbar für das, was wir anbieten. Diese Betroffenen sind offensichtlich in einer sehr bedürftigen Lage und wissen es zu schätzen, was wir hier tun», berichtet die Gassechuchi-Präsidentin, deren Verein bereits im November 2004 damit begonnen hatte, sozial schwächer gestellten Personen in Langenthal eine warme Mahlzeit auszuhändigen.
Zu beurteilen und zu kontrollieren, wer wirklich bedürftig ist und wer nicht unbedingt, sei schwierig. «Wir haben keine Handhabe, um Missbrauch einzudämmen», räumt Schönmann ein. Als Berechtigungs-Kriterien werden vor allem zwei Dinge herangezogen. Erstens: Betroffene müssen einen entsprechenden Ausweis vorzeigen können (beispielsweise einen Ausweis für Schutzbedürftige). Zweitens: Lebensmittel, Haushaltsartikel und Kleider werden grundsätzlich nur an Personen abgegeben, die in einem Umkreis von acht Kilometer rund um Langenthal zuhause sind.

«Es braucht uns sowieso»
Inzwischen hat die brennende Spätsommersonne ihren Mittagshöhepunkt überschritten. Es ist 14.30 Uhr. Zeit, die gefüllten Taschen an die geduldig wartenden Menschen auszuhändigen. Unter ihnen auch die Frau, die heute zum ersten Mal hier ist. Als Esther Schönmann ihre Nummer aufruft, geht sie nach vorn zum Gitter, um als Tausch gegen das nummerierte Zettelchen ihren Lebensmittelsack in Empfang zu nehmen. In gebrochenem Englisch bedankt sie sich bei den Helferinnen und Helfern der Gassechuchi. Der Dank wird mit einem freundlichen Nicken erwidert. Dann tritt sie zurück, um den nächsten Bedürftigen Platz zu machen. Einige Ukrainisch sprechende Personen, die bei der Markthalle ein Grüppchen gebildet haben, nehmen die Frau schliesslich bei sich auf. Eine lebhafte Konversation entsteht.
«Stimmt, das hätte ich ja fast vergessen zu erwähnen», ruft Esther Schönmann dem Journalisten zu, der die Szenerie aus der Distanz beobachtet hat. «Die Gassechuchi ist für viele Menschen ein wichtiger sozialer Treffpunkt geworden – es braucht uns also sowieso, egal, was noch alles kommen mag», schmunzelt die 81-Jährige, während sie eine weitere Lebensmitteltasche an eine wartende Person aushändigt.

Von Patrick Jordi