• Die Gruppe des Werkateliers vor dem Verkaufsladen / Café «Kuriosum» der Stiftung WBM Madiswil. · Bild: Liselotte Jost-Zürcher

15.08.2018
Oberaargau

«Ich bin sehr dankbar, dass es Institutionen wie die WBM gibt»

Stiftung WBM: Werkatelier (3). Nurhak Demir arbeitet seit einem Jahr in der WBM Madiswil. Es war der Anfang auf dem Weg zu einem grossen Ziel, das sie schrittweise und mit Hilfe ihrer Betreuungspersonen zu erreichen versucht. Mit starkem Willen hat sie zurück in Alltagsstrukturen gefunden, hat zur eigenen und zur Freude aller Beteiligten mehrere Zwischenziele schon erreicht. Dass es Institutionen wie die WBM gibt, findet Nurhak Demir gar nicht selbstverständlich.

Madiswil · Mit berechtigtem Stolz führt Nurhak Demir durch das «Kuriosum», den Verkaufsladen der Stiftung WBM Madiswil. Sie weist vor allem auf die Geschenke, Gebrauchsartikel und auf die liebevoll verpackten Küchenprodukte hin, die in der hauseigenen Werkabteilung hergestellt werden.
Daneben stehen in den Gestellen auch Kunsthandwerk und Produkte aus den Ateliers von anderen Institutionen. Die Vielfalt an Artikeln für Haus, Garten und Deko ist riesig.
Nurhak Demirs grosser Wunsch: «Dass der Laden mehr, noch viel mehr besucht wird. Wir haben nämlich eine Menge schöner und nützlicher Dinge hier, und es freut uns immer sehr, wenn Leute hierherkommen, etwas kaufen und in der Café-Ecke einen Kaffee trinken.» Eine ihrer Aufgaben ist es, im «Kuriosum» regelmässig die haltbaren Lebensmittel zu kontrollieren, sie vor dem Ablaufdatum herunterzuschreiben oder aus den Regalen zu nehmen. Das tut sie zuverlässig und mit viel Freude. «Aber am liebsten serviere ich Kaffee!».

Ohne Druck und mit viel Unterstützung
Seit den Sommerferien arbeitet Nurhak Demir wieder in einem Vollzeitpensum. Langsam, ohne Arbeitsdruck und begleitet mit Gesprächen und Unterstützung findet sie hier zurück in einen geregelten Alltag, lernt, sich wieder mehr zuzumuten.
Vor ein, zwei Jahren sah alles ganz anders aus. Die damals alleinerziehende Mutter arbeitete zuletzt in einem Brocki-Laden. Es wurde ihr alles zuviel. «Ich weiss nicht, wie es kam.»
Sie begann, sich ins Schneckenhaus zurückzuziehen und verlor jeglichen Halt. Bereits damals war die Rede davon, dass sie in der WBM «schnuppern» könnte. Doch die Lage eskalierte und ein Aufenthalt in dieser war in dieser Zeit nicht möglich. Nach einer Krise im August 2017 erhielt sie einen Platz im Werkatelier in der Stiftung WBM Madiswil.
Die WBM führt das Werkatelier für Menschen mit grösserem Unterstützungsbedarf. Zehn bis zwölf Personen können sich hier ohne Leistungsdruck handwerklich, kreativ und durch die Erledigung von kleineren Arbeiten entwickeln. Das Fachpersonal unter der Leitung von Erika Aellen stellt in der kleinen Gruppe eine intensive Unterstützung und Begleitung sicher. Dank der guten Vernetzung mit der Werkstatt können von dort bei Bedarf und je nach Möglichkeiten einfache Aufträge ausgeführt werden, allerdings ohne zeitlichen Druck. Dies erlaubt es, optimal auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen hier beschäftigten Menschen einzugehen.

Zeit und Wertschätzung
Sie erhalten die nötige Zeit, den Respekt und die Wertschätzung, um sich zu entwickeln und zu stabilisieren, vor allem aber, um in einen geregelten Alltag mit strukturiertem Ablauf zurückzufinden. «Die Tagesstruktur ist das Wichtigste überhaupt. Sie bringt ihnen Sicherheit, Selbstvertrauen und auch Erfüllung. Im besten Fall kann der psychische und soziale Aufbau sie zurück ins Arbeitsleben führen», beschreibt Erika Aellen das Werkatelier im Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler». Ist ein Aufbau soweit gelungen, dass sich eine Person befähigt und bereit fühlt, kann intern in den verschiedenen Abteilungen oder auch an einem anderen geeigneten Arbeitsort eine neue Lösung gesucht werden.
Die Ziele werden gemeinsam mit den Beschäftigten im Werkatelier individuell und je nach Entwicklung wieder neu definiert.

Tapfer und engagiert
Wie mit Nurhak Demir, die ihren steilen Weg tapfer und mit viel Engagement in Angriff genommen hat – und in diesem einen Jahr schon viel weitergekommen ist, als dass sie selbst und ihr Umfeld jemals zu hoffen wagten.
«Ich habe versucht, wieder stabil zu werden, eine Tagesstruktur aufzu-bauen. Ich muss lernen, mit mir selbst umzugehen. Die vielen Gespräche mit Erika Aellen haben mir dabei schon viel geholfen. Ich will meine Ziele erarbeiten. Heute geht es mir viel besser. Seit letzten Dezember hatte ich keine Krise mehr und bin sehr stolz darauf.» Anfangs arbeitete sie zwei bis drei halbe Tage, dann fünf halbe Tage, inzwischen vollzeitlich von 8.15 bis 16.30 Uhr. Nach und nach konnte sie Verantwortung übernehmen.
So bereitet sie einmal wöchentlich das «Znüni» für die ganze Gruppe zu, holt den Kaffee, und ebenfalls einmal wöchentlich kocht sie für die Gruppe das Mittagessen. Wo nötig erhält sie Unterstützung. Das Menü darf die einstige Küchenangestellte gemeinsam mit den Betreuungspersonen zusammenstellen und planen. Sie strahlt beim Erzählen, hält aber fest: «Am liebsten arbeite ich im ‹Kuriosum›; der Laden liegt mir sehr am Herzen.»
Diese Aussage ist auch die Brücke, um ihr fernes, grosses Ziel zu definieren: «Ich möchte wieder zurückkehren in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist auch die Voraussetzung, dass ich die Obhut für meinen 9-jährigen Sohn anfordern kann. Vielleicht schaffe ich es, vielleicht auch nicht, aber ich hoffe es.»
Vor allem ihr Kind sei ihr sehr wichtig. Dieses lebt im Moment in einem Heim. Zweimal pro Monat darf sie den Sohn besuchen, einmal pro Monat für ein Wochenende heimnehmen.
Was vor einem Jahr niemand für möglich gehalten hätte: Dank der offensichtlichen Stabilität durfte die in der Schweiz Aufgewachsene in den Sommerferien drei Wochen lang mit ihm in ihr Heimatland in die Ferien fahren. Einzige Bedingung war es, dass jemand sie begleitete. So fuhr ihre Mutter mit. Ein Grund zum Strahlen: «Es ging tipptopp! Wir haben es alle sehr genossen.» Dass sie drei Wochen mit dem Sohn ins Ausland durfte,  war ausschliesslich ihrer guten Verfassung
zu verdanken.

Noch mehr festigen
So zeigen die Zeichen nach oben. Noch aber muss Nurhak Demir mehr Sicherheit erhalten, muss ihre Stabilität festigen. Wenn sie sich sicher fühlt, wird sie schrittweise in der Werkstatt der WBM arbeiten dürfen – der nächste Meilenstein. Ohne aber etwas zu überstürzen: «Im Moment bin ich noch nicht bereit, fühle mich dazu zu wenig gefestigt und muss noch üben.» «Den Zeitpunkt kannst du selbst bestimmen», beruhigt Erika Aellen.
Eigentlich scheint das Gespräch hier beendet. Aber etwas brennt Nurhak Demir auf der Zunge: «Ich bin sehr, sehr dankbar, dass es eine Einrichtung wie die WBM gibt, dass man hier an seinen Zielen üben darf und dass man diese auch erreichen kann. Vor allem aber, dass diese Institution sowohl auf Menschen mit einer Einschränkung als auch mit psychischen Problemen ausgerichtet ist und diese aufnimmt und fördert. Das ist nicht selbstverständlich. In meinem Heimatland gibt es so etwas nicht, dort stehen solche Menschen auf der Strasse. Niemand kümmert sich um sie.»
Das hat die junge Frau stark beschäftigt. «Ich bin wirklich sehr froh, hier sein zu dürfen», wiederholt sie.

Die WBM im Jubiläumsjahr
Die Stiftung WBM Madiswil feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen (der «Unter-Emmentaler» berichtete). Im Rahmen dieses Jubiläums stellt der «UE» in fünf Serien die einzelnen Bereiche
Hotellerie, Werkatelier, Montage und Verpacken, Mechanische Fertigung und den Wohn- und Freizeitbereich vor. In dieser Ausgabe folgt die Serie 3, Werkatelier (bisher veröffentlicht: Hotellerie, Donnerstag, 22. März 2018; Mechanik, Donnerstag,
31. Mai 2018).

Von Liselotte Jost-Zürcher