• Christian Lehmann während seinem Rettungseinsatz in der Türkei. · Bild: zvg

  • Mitarbeiter der Schweizer Rettungskette retten eine Mutter und ihr Baby in den Trümmern eines Hauses. · Bild: keystone

  • Wiedervereint mit der Familie – und beschenkt mit Blumen. · Bilder: Silvia Staub

  • Am 13. Februar erlebten die Mitglieder der Schweizer Rettungskette am Flughafen Zürich einen berührenden Empfang. · Bild: keystone

23.02.2023
Huttwil

«Ich sehe mich nicht als Helden»

Als Teil der Schweizer Rettungskette war der Huttwiler Christian Lehmann eine Woche lang im Erdbebengebiet in der Türkei im Einsatz. Er war an der Rettung von fünf Menschen beteiligt – und will diese Erfahrungen künftig auch in seinem beruflichen Umfeld einbringen.

6. Februar 2023: Die SMS kommt am Montagmorgen früh: «Schweres Erdbeben in der Türkei und Syrien. Bereit machen für einen Einsatz der Schweizer Rettungskette.» Der Huttwiler Christian Lehmann liest das noch im Halbschlaf und fängt an, in den Medien nach Meldungen zum Erdbeben zu suchen. Die Katastrophen-Nachricht kommt gerade erst in der Schweiz an. «In dem Moment geht einem alles Mögliche durch den Kopf», sagt er. Nach ein paar Stunden der Ungewissheit kommt das definitive Aufgebot zum Einsatz. Die Türkei hat offiziell internationale Hilfe angefordert, das EDA hat die Schweizer Rettungskette mobilisiert –für Christian Lehmann und 80 weitere Personen des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe heisst das: Einrücken.

Erster Ernsteinsatz als Mitglied der Schweizer Rettungskette
Hauptberuflich ist Lehmann Kommandant des Zivilschutzes Region Langenthal und Leiter des Fachbereichs Zivilschutz, Feuerwehr und Quartieramt der Stadt Langenthal. Davor war er jahrelang als Berufsunteroffizier der Schweizer Armee tätig und bildete dort Rettungssoldaten aus. Obwohl er schon seit 2008 Mitglied der Schweizer Rettungskette ist, ist dies sein erster Einsatz im Ernstfall. Aber er weiss ziemlich genau, was ihn erwartet. «Wir trainieren solche Szenarien regelmässig – auch die Mobilisierung.» Wie das alles abläuft, muss er vor der Abreise auch seiner älteren Tochter sorgfältig erklären. Denn ihr fällt der Abschied besonders schwer: «Sie wusste genau, was los ist, und hatte Angst um mich.»

In der Stadt Antakya im Einsatz
Keine zwölf Stunden nach der ersten SMS besammelt sich am Montagabend die gesamte Staffel der Schweizer Rettungskette am Flughafen in Zürich. Rettungsfachleute, Rettungssanitäter, Hundeführerinnen, Ortungs-Fachleute, Ärztinnen, Spezialisten für gefährliche Stoffe. Noch weiss niemand, ob sie überhaupt noch Menschen lebend werden retten können. Von den türkischen Behörden wird ihnen die Stadt Antakya zugeteilt. Dort schlagen sie als erstes ihre Zelte auf und funktionieren von da an komplett selbstversorgend. Von der Unterkunft über die Verpflegung bis hin zu den sanitären Anlagen. «In einer solchen Situation will man einem Land ja auf keinen Fall noch zusätzlich zur Last fallen.» Das einzige, das zu Beginn nicht gut funktioniert, sind die Telefon-Verbindungen nach Hause in die Schweiz. Denn die Kommunikationsnetze in der ganzen Region sind zerstört - die wenigen die es noch gibt, überlastet. Besonders für die Angehörigen zu Hause ist das schwierig.

Besonderes «Geburtstagsgeschenk»
In zwölfstündigen Schichten wechseln sich die Schweizer Rettungsteams jeweils ab. Als Zugführer hat Christian Lehmann die Führungsverantwortung für eines davon. Systematisch suchen sie in den Trümmern nach Überlebenden. Mit Suchhunden, sensiblen Mikrofonen und Wärmebildkameras. Schon am ersten Tag gelingt seinem Team die Rettung von mehreren Verschütteten.
Für Christian Lehmann besonders speziell: Es ist zugleich sein Geburtstag. Der sei in diesem Moment zwar völlig nebensächlich gewesen, «aber an meinem Geburtstag Leben retten zu können, war das grösste Geschenk.» Am Mittwoch kann Lehmanns Team dann ein viermonatiges Baby, dessen Mutter und den Grossvater aus den Trümmern befreien und an das medizinische Team übergeben. «Das sind unglaublich schöne Erfolgsmomente», erinnert er sich.

«Manchmal hat es mich richtig geschüttelt»
Doch es gibt auch die anderen Momente. Unzählige Male kommen verzweifelte Menschen auf die Retterinnen und Retter zu und bitten sie, doch unter den Trümmern ihres Hauses  nach Angehörigen zu suchen. In solchen Fällen hätten sie manchmal noch mit den Hunden gesucht, erzählt Lehmann. Doch wenn diese keine Hinweise auf Lebenszeichen geben, ist der Fall für die Retter klar. «Das waren die schlimmsten Momente, wenn wir den Leuten sagen mussten, dass wir hier nicht weitersuchen.» Christian Lehmann bekommt noch heute Hühnerhaut, wenn er davon erzählt: «Manchmal hat es mich richtig geschüttelt.» Besonderes Erstaunen löst auch die Reaktion der Betroffenen aus: «Sie akzeptierten, dass wir weitergehen muss­ten und unseren Fokus auf Verschüttete mit Überlebenschancen richten.»

Akzeptieren müssen und können
Dieser Moment des Akzeptierens – etwa ab Wochenmitte – ist er für alle Retterinnen und Retter zu spüren. Helfenden und Betroffenen ist bewusst, dass die Chance, Überlebende zu finden, immer kleiner wird. «Die Stimmung in der Stadt war plötzlich anders», erinnert sich Lehmann. Mit seinem Team sucht er am Donnerstag einen Stadtteil ab, zu dem bisher noch kein internationales Team gekommen war. «Es fühlte sich an, wie auf einem Friedhof.» Die Menschen vor Ort schicken die Retter von sich aus weiter – hier habe es keinen Sinn mehr. «Das hat mich stark ergriffen.»

Das Erdbeben wird zum Teil des eigenen Lebens
Solche Erlebnisse hinterlassen auch bei den Rettern ihre Spuren. «Ich musste mir irgendwann eingestehen, dass dieses Ereignis stärker ist als ich», sagt Lehmann. «Es ist jetzt Teil von mir und ich von ihm.» Das Erlebte wolle und könne er nicht ausblenden. «Als Mitglied der Rettungskette lässt man sich bewusst auf solche Situationen ein.» Und als Feuerwehr- und Zivilschutz-Offizier sind für Christian Lehmann belastende Einsätze denn auch nicht neu. «Die Dimension ist hier einfach riesig.» Um die psychische Gesundheit der Helfenden zu schützen, gehören zwei Psychologen zum Einsatzteam. Nach dem Einsatz werden zudem alle Mitglieder der Rettungskette persönlich angerufen. Bei Bedarf können sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen.

Bewegender Empfang
Nach einer Woche Einsatz und insgesamt elf lebend geretteten Menschen geht’s für die Schweizer Rettungskette schliesslich wieder nach Hause in die Schweiz. Die Flughafenfeuerwehr in Zürich lässt das gelandete Flugzeug unter einem Wasser-Vorhang durchfahren, so wie sie es jeweils bei der Schweizer Nati tut. Im Rega Hangar am Flughafen Zürich warten schon die Angehörigen – und eine Gruppe von Menschen aus der türkischen Diaspora. Mit Blumen, Ballons und Schildern danken sie den Retterinnen und Rettern für den Einsatz in der Türkei. «Das war sehr bewegend, damit hätte ich nicht gerechnet», sagt Christian Lehmann. «Ihr seid Helden» so der Spruch auf einem Schild. Er sehe sich aber nicht als Helden, sagt er. «Wir haben einfach das gemacht, wofür wir ausgebildet sind und was wir immer wieder trainieren.»
Den Einsatz in Trümmern trainieren, das dürfte künftig auch der Zivilschutz Region Langenthal häufiger. Als Zivilschutzkommandant wolle er da nun einen stärkeren Akzent darauflegen, erklärt Lehmann. «Natürlich ist die Erdbebengefahr bei uns kleiner, aber die Trümmerrettung ist auch bei anderen grossflächigen Zerstörungen wichtig.» Etwa bei einem Flugzeugabsturz, einer grossen Explosion oder gar einem kriegerischen Ereignis. «Es wäre blauäugig zu glauben, dass bei uns so etwas nie passieren kann.» In der Schweizer Rettungskette jedenfalls funktioniert die Trümmer-Rettung: Der Einsatz in der Türkei gilt als einer der erfolgreichsten seit langem, was die Zahl der Geretteten betrifft.

Von Silvia Staub