• Matthias Aeschbacher mit seiner Frau Madlen und seinem 2-jährigen Sohn Nino. · Bild: Stefan Leuenberger

  • Rüegsau empfängt und würdigt den ESAF-Schlussgangteilnehmer Matthias Aeschbacher (mit Sohn Nino). · Bilder: Stefan Leuenberger

  • «Disu» und Rüegsaus Gemeindepräsident Andreas Hängärtner.

  • Matthias Aeschbacher gab seine begehrte Unterschrift sogar auf Handyhüllen.

08.09.2022
Sport

«Ich werde noch härter an mir arbeiten»

Der 30-jährige Matthias Aeschbacher aus Rüegs­au­schachen hat am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Pratteln den Schlussgang dominiert – und ist trotzdem nicht Schwingerkönig geworden. Der «UE» unterhielt sich mit dem 77-fachen Kranzer des Schwingklubs Sumiswald.

Schwingen · Interview: Stefan Leuenberger im Gespräch mit Matthias Aeschbacher, Schwinger aus Rüegsauschachen

Wie ist Ihre Gemütslage mit ein bisschen Distanz zum grössten Wettkampf Ihrer Karriere?
Sehr gut.

Sie waren im Schlussgang der klar bessere Schwinger. Gleich sechs Mal hatten Sie Joel Wicki am Boden und standen kurz vor dem Sieg. Was fehlte zur Vollendung?
Ich war zu wenig böse. Joel hat einfach eine enorme Rumpfspannung und ist sehr schnell. Ich hatte ihn nie pfannen- fertig, um am Boden abzuschliessen. Er war immer bereits weg, als ich zum nötigen Griffwechsel ansetzen wollte. Als ich Joel in der Beinschere hatte, hätte ich mit «Grittelen» den Kampf beenden sollen. Auch durch Abfangen des Übersprungs wäre der Sieg möglich gewesen. Aber: Ich habe mein Bestes gegeben und noch nie so gut geschwungen wie in diesem Schlussgang. Trotzdem hat es nicht gereicht, was mir aufzeigt, dass ich noch ein bisschen mehr tun muss, um es ganz nach oben zu schaffen.      

Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass Wicki ein absolut verdienter und würdiger Schwingerkönig ist?
Joel gönne ich den Königstitel absolut. Und er ist ja nicht verantwortlich dafür, dass ich meine zahlreichen Chancen nicht genutzt habe.

Was verbindet Sie mit dem Sörenberger?
Während dem WK in Magglingen trainieren wir oft zusammen. Uns verbindet ein sehr freundschaftliches Verhältnis.

Am Königstitel des Entlebuchers gibt es einen kleinen Makel: Beim entscheidenden Wurf waren beide Hände Wickis weder an Ihren Schwinghosen noch an Ihrem Ledergurt. Damit war der siegbringende Angriff irregulär. Was sagen Sie dazu?
Ich habe gar nichts davon bemerkt. Und der Kampfrichter sowie alle Mannen rund um den Sägemehlring herum haben auch nichts gesehen. Erst am Abend um 22 Uhr habe ich via Fernsehbilder davon erfahren. Für mich ist das absolut kein Thema. Mich «wurmen» die eigenen vergebenen Chancen viel mehr.   

Aber ein Fehlentscheid im Kampf um die Königskrone ist doppelt bitter. Mit einem Videobeweis wäre es möglich, solche unkorrekten Sachen zu erkennen.
Einen VAR braucht es im Schwingen nicht, obwohl mir dieser im Schlussgang eventuell geholfen hätte. Tatsache ist aber auch, dass ich bei einem VAR gar nicht im Schlussgang gestanden hätte. Im siebten Gang gegen Adrian Odermatt hatte ich diesen nach dem ersten Zug schon gültig auf dem Rücken, wofür es die Note 9,75 gegeben hätte. Der Kampfrichter gab das Resultat nicht. Ich erhielt noch einmal einen Versuch und legte ihn platt ins Sägemehl, was mit der Note 10,00 belohnt wurde. Auch andere strittige Szenen hätten die Schlussgang-Beteiligung verändern können.

In den sozialen Medien wurden Sie für Ihren heroischen Kampf im Schlussgang gelobt aber auch für die ausbleibenden Gratulationen an den Sieger während Ihrer ersten Analyse kritisiert.
Das ist mir ziemlich egal. Ich war nämlich garantiert die allererste Person, welche Joel Wicki zum Sieg gratuliert hat. Dass ich beim ersten Interview wenige Momente nach der Schlussgang-Niederlage enttäuscht war, dürfte nachvollziehbar sein.

Wenn Sie vor einem Gang stehen, wirken Sie stets hochkonzentriert. Ansonsten sind Sie dauerhaft am Lachen, locker drauf und äusserst freundlich. Wie denken Sie darüber, wenn die grösste Schweizer Zeitung schreibt, dass Sie kein Strahlemann sind?
Vor einem Kampf bin ich immer fokussiert. Ansonsten würde ich mich aber schon als lockeren, freundlichen und aufgestellten Typen bezeichnen, der gerne lacht.

Vor dem Einmarsch in die Arena haben Sie ein kleines Ritual vollzogen. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Ich wollte mich einfach noch einmal komplett fokussieren. Die fast zwei Stunden vor dem Schlussgang waren schon heftig.

Wie Gladiatoren sind Wicki und Sie in die Arena mit 51 000 Zuschauern einmarschiert. Daheim sassen 900 000 Leute an den TV-Bildschirmen. Was hat das mit Ihnen gemacht?
So etwas musste ich ausblenden, um mich ganz auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Aber natürlich lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Gerade auch, als ich zum Brunnen schritt, wo mich das komplett versammelte Berner Team pushte.

Ein ESAF-Schlussgang ist für einen Schwinger eine einmalige Sache. Es gibt aber einige wenige Ausnahmen. Christian Stucki und nun Joel Wicki haben gezeigt, dass nach einem verlorenen Schlussgang sogar der Königstitel machbar ist. Tröstet Sie diese Tatsache über die vergebene Riesenchance hinweg – und motiviert es Sie, daran zu glauben, es im Glarnerland oder in Thun wieder in den Schlussgang schaffen zu können?
Natürlich. Und ich gehe nicht davon aus, dass ich in den nächsten drei Jahren stagniere.

Sind Sie bereit, den notwendigen Aufwand dafür zu betreiben?
Absolut. Ich werde noch härter an mir arbeiten, um die wenigen Zentimeter, die mir jetzt zum Titel fehlten, noch wettzumachen.

Nach dem Schlussgang begann für Sie ein Medien-Marathon. Wie schwierig war es, Red und Antwort zu stehen, wenn man doch eigentlich etwas Zeit für sich benötigen würde, um die Enttäuschung sacken zu lassen?
Darauf konnte ich mich einstellen, das war kein Problem. Das Medieninteresse war in der gesamten Woche nach dem ESAF gross. Jetzt klingt es langsam ein bisschen ab, was mich überhaupt nicht stört.

Aufmunterungen und Gratulationen dürften Sie aufgebaut haben. Was ging auf den sozialen Kanälen ab?
Da ging wirklich was ab. Ich habe immer noch 100 Mails, welche ich nicht beantwortet habe. Auch durch die Menge an Nachrichten auf Whats-App und Instagram kämpfe ich mich momentan. Ich bitte alle um ein bisschen Geduld. Gefreut hat mich, dass alle Nachrichten positiv waren und die Schreibenden vor allem meine Leistung im Schlussgang würdigten.

Gab es Geschenke der Fans?
Ich habe Zeichnungen und Briefe erhalten. Einer hat mir geschrieben, dass er seit Jahren Schwingfeste besuche aber noch nie einem Schwinger geschrieben habe. Mir wollte er aber jetzt schriftlich gratulieren.

Und was hat Ihre Frau Madlen zu Ihnen gesagt?
Sie kennt mich und wusste genau, wie enttäuscht ich bin. Sie gratulierte mir und meinte, dass ich auf meine Leistung stolz sein könne.

Und Ihre Eltern im Heimisbach, wo sie aufgewachsen sind? Was sagten Heidi und Jakob Aeschbacher?
Die hatten natürlich auf Freude. Sie waren live vor Ort. Mein Vater ist sogar aus dem Heimisbach mit dem Zug nach Pratteln gereist.

Wie schön war es nach dieser hektischen Zeit, Ihren Sohn Nino wieder in die Arme nehmen zu können?
Diese Familienzeit war wunderschön.

Sie sind jetzt auch ausserhalb der Schwingerszene bekannt. Ist diese Welt als Prominenter in der Glanz- und Gloria-Gesellschaft etwas für Sie?
(lacht). Das kann ich jetzt noch nicht beantworten. Da muss ich jetzt erst einmal schauen, was passiert.

Ist die für Prominente obligate Anfrage der Schweizer Illustrierten bereits erfolgt?
Nein, noch nicht. Aber das ist auch gut so.

Wo ist Ihr zweiter Eidgenössischer Kranz fortan zu bestaunen?
Nach meinen offiziellen Auftritten wird er bei den anderen Kränzen in der Wohnstube seinen Platz erhalten.   

Für was haben Sie sich schliesslich im Gabentempel entschieden?
Genaugleich wie vor drei Jahren in Zug habe ich mich für einen von Hanspeter Wenger gespendeten Lebendpreis entschieden. Damals in Zug war es das Brown Swiss-Rind Venus und nun in Pratteln das Simmentaler Rind Pisa. Da ich nicht als Landwirt arbeite, nahm ich den Gegenwert in Geld.

Nach der intensiven ESAF-Zeit gönnen Sie sich bestimmt einiges. Was wünschten Sie sich beispielsweise auf dem Teller?
Wir gönnten es uns in den letzten Tagen, auswärts essen zu gehen.

Gibt es Erholungsferien mit der Familie?
Die sind für November/Dezember in Thailand geplant.

Momentan stehen Empfänge auf dem Programm. Was bedeutet es Ihnen, wenn Ihre Wohngemeinde zu Ihren Ehren einen Anlass auf die Beine stellt?
Das ist wunderschön und ehrt mich.

Haben Sie gedacht, dass in Rüegsau so viele Leute an den Empfang kommen?
Ich lag mit meiner Schätzung von 750 Leuten wohl nicht so schlecht. Natürlich freute ich mich über diesen Grossaufmarsch.

Söhnchen Nino begleitete Sie im Edelweiss-Hemd an diesen Empfang. Das tut gut, nicht?
Das ist schön und bedeutet mir sehr viel.

Der Schwingklub Sumiswald empfängt Sie heute Freitagabend um 19 Uhr auf dem Dorfplatz. Dabei sein werden alle Sumiswalder ESAF-Schwinger. Sie werden aber im Fokus stehen – zusammen mit Konrad Steffen, der ebenfalls den Kranz holte. Was sagen Sie über Ihren Vereinskameraden.
«Könu», dem ich den Kranzgewinn von Herzen gönne, wird leider nicht anwesend sein, weil er in Kanada in den Ferien weilt. Ich erhoffe mir einen riesigen Besucheraufmarsch und bin gewillt, eine Chilbi zu machen.    

Gab oder gibt es weitere Feierlichkeiten?
Ja, dauerhaft. Ich besuchte die bisherigen Feiern der Emmentaler Kranzgewinner. Weitere werden folgen.

Als Schwingerkönig ist eine Menge Geld zu verdienen. Denken Sie, dass Sie als Schlussgang-Teilnehmer auch profitieren werden?
Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Tatsache ist, dass ich bereits vor meiner ESAF-Schlussgang-Teilnahme mit meinen Sponsoren eine gute Situation hatte.   

Werden Sie aktiv? Unternehmen Sie etwas, um aus Ihrer Bekanntheit etwas Profit zu schlagen?
Es gibt bereits Hemden und Kappen mit meinem Logo. Diese vertreibe ich aber nur hobbymässig und verdiene nichts daran. Betreffend dem Merchandising werde ich mir in der nächsten Zeit sicher Gedanken machen.

Aus aktuellen Gründen: Denken Sie, dass im Schwingsport gedopt wird?
Nein, ganz sicher nicht. Kein Schwinger hätte die Möglichkeit und das Wissen, professionell zu dopen.

Sie hatten nie den Gedanken, mit irgend einer Substanz etwas nachzuhelfen?
Sicher nicht.

Gelegentlich ein Snus muss aber sein.
Das ist ein leidiges Thema. Es ist aber nicht ganz einfach, damit aufzuhören.

Wie hart traf Sie die Dopingkunde von Mountainbiker Mathias Flückiger, mit welchem Sie sich Jahr für Jahr um den Sieg im Club 88-Sportpreis Region Huttwil bekämpfen?
Das hat mich schon getroffen. Ich möchte mich aber nicht dazu äussern, weil bislang keine Details, sprich die B-Probe, bekannt sind.

Glauben Sie, dass er unschuldig ist?
Schwierig. Ich brauche mehr Fakten – die ich noch nicht habe –, um mich äussern zu können.

Eine weitere ständige Sportpreis-Konkurrentin ist Géraldine Ruckstuhl aus Altbüron. Die Siebenkämpferin bekundet nach ihrer Nichtnomination für die Olympischen Spiele und nun einer Coronaerkrankung Mühe, den Anschluss wieder zu schaffen.
Ich wünsche ihr alles Gute. Sie muss einfach dran bleiben – nur so wird man belohnt. Ich bin aber sicher, dass sie es schafft.

Der Rohrbacher Töffpilot Dominique Aegerter, ein anderer Sportpreis-Dauergast, ist soeben MotoE-Champion geworden.
Für mich ist das natürlich nicht so gut (lacht). Spass beiseite. Ich gratuliere ihm ganz herzlich.

 

«Disu» wie ein König empfangen
Die Menge klatschte und jubelte, als ihr Sportheld Matthias Aeschbacher am vergangenen Freitagabend in einem herausgeputzten und mit Sonnenblumen geschmückten VW-Cabriolet auf dem Dorfplatz zwischen dem Alters- und Pflegeheim sowie dem Kirchgemeindehaus – nur 300 m neben seinem Zuhause – eintraf. Zusammen mit Ehefrau Madlen und seinem zweijährigen Sohn Nino schritt der ESAF-Schlussgangteilnehmer und -Kranzgewinner durch die begeisterte Menge. Die Gemeinde Rüegsau bot ihrem Sporthelden einen würdigen Empfang.
Der Gemeindepräsident Andreas Hängärtner und Mathias Leibundgut, Präsident des Verkehrsvereins Hasle-Rüegsau, richteten ehrenvolle Worte an Matthias Aeschbacher. Die Musikgesellschaft Biembach und die Jodler umrahmten die Feier musikalisch. «Rüegsau und das ganze Emmental sind stolz auf dich», lobte Gemeindepräsident Andreas Hängärtner. «Danke für die Spannung und die unvergesslichen Momente, die du uns zwei Tage lang geschenkt hast.» Und Hängärtner weiter: «Es tut deiner grandiosen Leistung überhaupt keinen Abbruch, dass du den Schlussgang verloren hast.»
Aeschbacher bedankte sich und machte sich daran, weit über eine Stunde lang sämtliche Autogramm- und Selfiewünsche zu erfüllen. «Disus» Signatur war dabei längst nicht nur auf der Autogrammkarte gefragt. Der 77-fache Kranzgewinner unterschrieb T-Shirts, Hemden, Caps, Velohelme, Fotos und viele Handyhüllen. Rüegsau hat jetzt einen Star – einen zum Anfassen ...