• Marcel Hirsiger mit dem typischen «Langenthaler Griff», mit dem Langenthalerinnen und Langenthaler feststellen, woher das Geschirr stammt. · Bild: Irmgard Bayard

17.06.2021
Langenthal

«Identität gibt Halt und Sicherheit»

Verfügt Langenthal über eine Identität? Ja, sagt Marcel Hirsiger. «Die Porzellanfabrik.» Obwohl in der Stadt schon lange kein Geschirr mehr hergestellt wird, will er diese als «Kulturelles Erbe» wieder aufleben lassen und sucht Mitstreiter.

«Was macht diese Stadt aus?» Diese Frage stellte sich Marcel Hirsiger, als er vor rund zehn Jahren mit seiner Familie nach Langenthal zog. Die Identität einer Stadt oder eines Landes beschäftige viele Menschen, ist er überzeugt. «Denn Identität gibt Halt und gewinnt in Zeiten der Unsicherheiten an Bedeutung.» Und Langenthal sei mehr als die mittelländische Stadt, die «gross genug» sei für Anonymität und «klein genug» für die Gemeinschaft, wie sie auf der offiziellen Homepage beschrieben werde.
 «Langenthal ist vor allem eng verbunden mit der Porzellanfabrik, auch wenn das Geschirr nicht mehr hier hergestellt wird», ist der Dozent für Betriebswirtschaft und Gesellschaftsfächer an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Osteuropaexperte überzeugt und zählt Erkennungswerte auf: Das Wappen im Logo des Porzellans, die Reichweite der Produkte in allen Schichten und Regionen, und nicht zuletzt das Porzi-Areal, welches weiterhin besteht, als sichtbarer Kern der Entwicklung. Ebenso seien viele Bewohnerinnen und Bewohner von Langenthal eng mit der Porzellanfabrik verbunden. Sei es, weil sie noch selbst dort gearbeitet haben oder weil sie Personen aus der Familie oder dem Bekanntenkreis kennen, die mit der Porzellanherstellung und -zeichnung ihr Einkommen sicherten.

Das «Kulturelle Erbe» hervorheben
«Natürlich gibt es den SC Langenthal, den man als Identität verstehen kann. Aber was ist, wenn der Schlittschuhclub drei, vier Saisons lang schlecht spielt? Dann wenden sich viele von ihm ab», ist Marcel Hirsiger überzeugt. Auch die hohen Trottoirs machen seiner Meinung nach nur Sinn, wenn sie in Verbindung mit Wasser hervorgehoben werden, einem Wasserfest beispielsweise.
Und dann ist da noch die Textilindustrie. Diese eigne sich eher fürs Stadtmarketing, welches zukunftsorientiert sein müsse und nicht mit der Identität einer Stadt verwechselt werden dürfe. Letztere werde durch Sichtbarkeit, Gespräche und Diskurse sowie Räume und Orte erzeugt. «Lan­genthal verfügt weder über eine Altstadt noch über ein Schloss wie andere Schweizer Städte und liegt nicht an der Aare. Unser kulturelles Erbe ist die Porzellanfabrik», sagt der 43-Jährige. Mit seinen Ideen, die er kürzlich unter dem Titel «Das Erbe der Porzi» an der Parteiversammlung der SP Langenthal öffentlich vorstellte, will er aufzeigen, dass es nicht unbedingt grosse und teure Würfe braucht, um eine Identität hervorzuheben. «Ich kann mir einen Themenweg zum Porzellan vorstellen, Sitzgelegenheiten mit der Porzi-Geschichte, ein Hinweis im Stadt-Logo, die Umbenennung einer Strasse und des Bahnhofs Süd in Bahnhof Porzellanfabrik», nennt Hirsiger Beispiele.

Strassen oder Platz umbenennen
Diesen Ideen kann Simon Kuert, pensionierter Pfarrer und Ehrenbürger der Stadt Langenthal, einiges abgewinnen. Auch er denkt, dass das Porzellan zur Identität von Langenthal gehöre. «Der Name einer grösseren Strasse würde stets daran erinnern», findet er und nennt als Beispiel die Feldstrasse, «die mit der Fortsetzung der Oberfeldstrasse ja direkt zur Porzi führt.» Aber auch derjenige Teil der Blumenstrasse, der von der Lotzwilstrasse zum Südbahnhof führt, fände der ehemalige Stadtchronist als geeignet. «Dieser Teil könnte allerdings auch in ‹Böhmerstrasse› umgetauft werden. Er würde an die böhmischen Gastarbeiter erinnern, die an dieser Strasse in den kleinen Wohnblocks gewohnt haben. Diese haben Wesentliches zur Entwicklung des Langenthaler Porzellans beigetragen», sinniert Kuert weiter. Seine Überlegungen gehen noch weiter. «Die Kreuzung Blumen-, Bleienbach-, Lotzwil- und Ringstrasse heisse bekanntlich Industrieplatz. «Man könnte ihn gerade so gut «Porzellanplatz» oder «Platz der Porzellanarbeiter» nennen. Er erinnere sich nämlich noch daran, wie sich an einem Morgen auf dieser Kreuzung 1000 Porzellanarbeiter begegneten, die der Arbeit zuströmten.
Gegen eine Umbenennung der Strassen oder des Platzes spreche allenfalls, dass heute kein Porzellan mehr produziert und das Porziareal für anderes Gewerbe genutzt werde. «Aber die Bleichestrasse und die Farbgasse wurde ja auch nach einem Gewerbe benannt, welches zur Zeit der Benennung so nicht mehr ausgeübt wurde», gibt er zu bedenken. Es sei letztlich eine Frage der Gewichtung der Porzellangeschichte für die Stadt, «und diese Gewichtung nimmt wohl das Stadtparlament beziehungsweise der Gemeinderat vor.»

Das Porzi-Areal heisst weiterhin so
«Das Porzi-Areal wird weiterhin so heissen», sagt Gian Kämpf, Geschäftsleitungsmitglied bei der Duksch An­liker Gruppe, Besitzerin des grösseren Teils des Geländes. Es sei dort zwar sehr viel Neues geplant, «aber wichtige Gebäude der einstigen Porzellanfabrik bleiben bestehen.» Die Geschichte der Porzi sei ein wichtiger Teil des Areals, der aufrecht erhalten bleiben solle. Er frage sich höchstens, ob man etwas künstlich aufleben lassen oder offener für Neues sein wolle. Die Umbenennung des Bahnhofs Süd in Bahnhof Porzi findet er hingegen sehr gut, wie er lachend sagt.

Auch andere Firmen waren und sind wichtig
Etwas kritischer äussert sich Stadt­präsident Reto Müller (SP). Die spannende Präsentation «die Porzi als identitätsstiftendes Element» (so der Untertitel) nehme er gerne als Ideenanstoss auf. Die Überlegung Hirsigers, dass die Porzi als Firma erheblichen Anteil daran habe, was Lan­genthal heute ist, und dass man dieses Erbe identitätsstiftend für eine Prägung erhalten und besser erlebbar machen sollte, sei aus seiner Sicht zu wenig differenziert, so Müller. «Nebst dem dörflichen Charakter haben mehrere Industrielle und ihre Betriebe die teilweise urban-industrielle Siedlungsstruktur Langenthals entlang der diversen Bahngeleise und die Geschichte Langenthals geprägt», so Müller, der unter anderen Ammann, Création Baumann, Lantal und Motorex nennt. «Das sind Firmen, welche über mehrere Jahrzehnte Langenthals Arbeiten und Leben prägten und die im Gegensatz zur Porzellanfabrik auch als Unternehmen heute noch existieren.» Aus diesem Grund dürfe kritisch hinterfragt werden, ob diese eher rückwärtsgewandte Orientierung auf die industrielle Hochblüte mit einem starken Produktionsstandort Langen­thal in den 60er- bis 80er-Jahren heute noch richtig sei, um für die Stadt zu werben.

Wird aus dem Bahnhof Langenthal Süd ein Bahnhof Porzi Langenthal?
Reto Müller kann sich deshalb nicht mit allen Ideen von Marcel Hirsiger anfreunden. Diejenige, den «Bahnhof Langenthal Süd» in «Bahnhof Porzi Langenthal» umzubenennen, findet er hingegen interessant. Neue Namen für Haltestellen würden vom Bundesamt für Verkehr genehmigt und müssten im Antrag den Richtlinien entsprechen. «Im Zuge der allfälligen Umgestaltung hin zu einem behindertengerechten Bahnhof Süd werden wir das Gespräch mit der BLS suchen und letztlich im Gemeinderat entscheiden, ob und wie konkret der Bahnhof Langenthal Süd in Zukunft heissen soll», so der Stadtpräsident.
Ebenso offen zeigt er sich für etwas anderes: «Das Stadtbauamt will in der kommenden Legislatur ein Möblierungskonzept erarbeiten, um die verwendeten Elemente im öffentlichen Raum schrittweise zu harmonisieren. Die Idee, eine neue Möblierung an der Geschichte Langenthals festzumachen, ist spannend und kann im Konzept aufgenommen werden», so Reto Müller, auch wenn er die Beschränkung auf eine einzige Firma als zu kurz findet.
Und wie geht es nun weiter? «Ich will weiterhin die Diskussion über die Identität führen und suche Mitstreiterinnen und Mitstreiter, welche mit mir weitere Ideen entwickeln und umsetzen helfen», so Marcel Hirsiger, der auch noch anderes im Hinterkopf hat. Zum Beispiel, dem grossen Lan­genthaler Oboisten, Komponisten und Dirigenten Heinz Holliger ein Festival für zeitgenössische Musik zu widmen. Aber das ist ein anderes Thema.

Von Irmgard Bayard