• Der Huttwiler Adrian Wüthrich setzt sich in Gesprächen mit dem Bundesrat, der Bundesverwaltung und anderen Sozialpartnern für die Arbeitnehmenden der Schweiz ein. · Bilder: Thomas Peter

24.04.2020
Oberaargau

Im Einsatz für eine soziale Marktwirtschaft – besonders in der Krise

Damit die Wirtschaft aus der Corona-Krise findet, werden alle Seiten zu Kompromissen bereit sein müssen. Damit diese aber nicht nur die Arbeitnehmer beeinträchtigen, setzt sich derzeit mit Adrian Wüthrich ein Huttwiler an vorderster Front ein. Der Vorsteher und Geschäftsführer von Travailsuisse erlebt eine besondere Zeit mit speziellen Herausforderungen und viel Verantwortung. Als Vertreter der Arbeitnehmenden wünscht er sich, dass Arbeitgeber schätzen, welche Opfer die Arbeitnehmenden im Zusammenhang mit der Coronakrise erbringen. Zudem hofft er, dass von der geforderten Solidarität auch nach der Krise etwas übrig bleibt.

Leroy Ryser im Gespräch mit Adrian Wüthrich, Vorsteher und Geschäftsführer vom Gewerkschaftsverbund Travailsuisse.

Adrian Wüthrich, viele Arbeitnehmer in der Schweiz haben zurzeit deutlich weniger Arbeit, einige können gar nicht mehr arbeiten. Wie ergeht es Ihnen als Arbeitnehmer zurzeit?
Ich kann am Mittag mit meiner Familie essen und das freut vor allem meinen Sohn, der mir früher schon einmal einen Job in Huttwil beschaffen wollte, damit ich mehr zu Hause sein kann. Das ist leider aber der einzige Vorteil, den ich der aktuellen Situation abgewinnen kann. Die Belastung ist für mich als Vorsteher dieses Gewerkschaftsverbundes gross. Es geht darum, rasch zu reagieren und die richtigen Forderungen zu stellen, die
vertretbar und zugleich nötig sind.
Dafür haben wir beinahe täglich Telefonkonferenzen mit anderen Vertretern von Sozialpartnern, der Bundesverwaltung oder dem Bundesrat. Und natürlich braucht auch das jeweils eine gewisse Vorbereitungszeit.

Ausserdem sind Sie als Familienvater auch privat stark gefordert: Homeschooling dürfte Ihnen längst bekannt sein.
Für berufstätige Eltern ist die aktuelle Situation eine grosse Herausforderung. Einerseits muss man die Kinder betreuen, andererseits stehen Telefonkonferenzen und Arbeitsaufträge an und alles sollte gleichzeitig funktionieren. Auch meine Frau und ich haben Erfahrungen mit der Zusatzbelastung gemacht und können anderen Eltern nachfühlen. Immerhin kann ich mir mit dem Homeoffice den Arbeitsweg nach Bern sparen.

Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie mit dem Bundesrat ständig in Kontakt stehen. Wie sieht das aus?
Ich kann mich noch gut erinnern, als wir am 5. März einen runden Tisch hatten, an dem Guy Parmelin am Schluss sagte, dass wir uns Ende Monat wieder treffen würden, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Zwischenzeitlich sprachen wir fast alle zwei Tage miteinander. Letztlich ist das aber auch sehr interessant. Ansonsten ist die schweizerische Politik sehr träge und aktuell passiert durch das Notrecht alles sehr schnell. Da muss man Schritt halten …

Worum geht es bei den Gesprächen mit dem Bundesrat? Auf welche Herausforderungen stossen Sie in Ihrem Alltag?
Vereinfacht gesagt geht es darum, gegenüber dem Bundesrat zu verschiedenen Themen Stellung zu beziehen und die richtigen Forderungen zu stellen, damit alle ein gesichertes Einkommen haben. Daraus entstanden sind beispielsweise die Lohnsicherungsmassnahmen, darunter die Aus­weitung der Kurzarbeit oder die
vereinfachte Kreditvergabe an Unternehmen. Hier bin ich überall einbezogen und begleite die Lösungsfindung als Vorsteher von Travailsuisse.

Eine spannende Zeit, um Vorsteher eines Gewerkschaftsverbundes zu sein.
Das ist so. Einerseits leite ich ein Team und trage die Verantwortung als Chef und Arbeitgeber, andererseits beziehe ich Stellung für die Arbeitnehmenden. Das ist eine grosse Verantwortung und auch eine Herausforderung. Spontan kommt mir da der 22. März in den Sinn, als das Tessin beschloss, die wirtschaftliche Tätigkeit im ganzen Kanton restlos zu verbieten. Am Samstagabend rief uns Guy Parmelin an, am Sonntag durften wir dann alle in Bern erscheinen. Für unsere Seite geht es da letztlich darum, zu verhindern dass Entscheide gefällt werden, die den
Arbeitnehmer zu stark benachteiligen.

Welche Ziele verfolgen Sie in diesen Momenten explizit?
Die Marktwirtschaft soll sozial funktionieren. Mit Solidarität. Und deshalb müssen wir hin und wieder den Arbeitgebern auf die Finger klopfen – bildlich gesprochen. Es ist wichtig, dass solche Entscheide nicht etwa zu Lasten der Gesundheit der Arbeitnehmenden gefällt werden.

Können Sie Beispiele nennen?
In Krisenzeiten kommt immer wieder der Wunsch nach einem flexibleren Arbeitsgesetz – obwohl wir schon ein sehr flexibles Arbeitsgesetz besitzen. Arbeitgeber wünschen sich, die Arbeitszeit zu erhöhen oder die Ruhezeiten, beispielsweise bei Chauffeuren, kürzen zu können. Weil viele dieser Wünsche letztlich nur die Arbeitnehmer belasten, intervenieren wir. Gegendruck ist in diesem Fall wichtig. Arbeitnehmer leisten bereits jetzt viel und gehen oftmals das Risiko einer Erkrankungen ein. Das gilt beispielsweise im Gesundheitswesen oder auch im Detailhandel. Auch wenn
viele Arbeitgeber verantwortungsvoll handeln, braucht es eine gemeinsame Vertretung der Interessen. Und wir versuchen das auf politischer Ebene sicherzustellen.

Ist es in der aktuellen Situation überhaupt möglich, sich für jeden einzelnen Arbeitnehmenden einzusetzen?
Grundsätzlich gelten die Gesetze in der Schweiz für alle gleichermassen. Wir setzen uns dafür ein, dass diese Rahmenbedingungen richtig gesetzt werden. Neben den Hauptthemen Arbeitswelt und Sozialversicherungen engagiert sich Travailsuisse für die Familie. So kämpfen wir für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In der aktuellen Zeit heisst das, dass wir dafür plädierten, dass Personen Entschädigung erhalten, die nicht arbeiten können, weil sie ihre Kinder betreuen müssen. Einzelpersonen haben darüber hinaus die Möglichkeit, sich einer Gewerkschaft anzuschliessen. Wir von Travailsuisse haben einen steten Kontakt mit ihnen, damit wir die Anliegen der Arbeitnehmer kennen.

Ich erlaube mir einen Angriff auf Sie als Vertreter der Arbeitnehmenden: Ist es angesichts der aktuellen Situation, in der sich die bereits gebeutelte Wirtschaft befindet, überhaupt zumutbar und angebracht, von Ihrer Seite Forderungen zu stellen?
Dank den Massnahmen, die wir getroffen haben, weiss der grosse Teil der Gesellschaft: Die Lohnzahlung ist mehrheitlich sichergestellt. Ohne diese Massnahmen würde als Folge dieser Krise auch der Konsum einbrechen, weitere Probleme würden folgen. Weil dies aber nicht passiert, können wir davon ausgehen, dass wir weiterhin konsumieren und die Wirtschaft in Gang bringen werden. Ausserdem geht es auch um elementare Forderungen, die wir stellen. Gesundheitsschutz beispielsweise. Weil letztlich sind die Arbeitnehmenden auch in einer Krise einfach nur Menschen. Und Arbeitgeber können nur profitieren, weil
Arbeitnehmer entsprechend für sie arbeiten. Man muss aber auch sagen, dass wir uns in diesen Runden nicht etwa gegeneinander ausspielen. Zum grossen Teil läuft das solidarisch und im Sinne eines Miteinander ab. Aber jeder bringt seine Forderungen im
Dialog ein. Damit wir Lösungen finden können, braucht es aber Kompromisse und Pragmatismus von allen Seiten, das ist klar. Diese Krise können wir nur miteinander überstehen.

Das wird auch nötig sein, wenn wir nach vorne blicken. Die Krise ist noch nicht überstanden.
Das ist richtig und auch hier wird es vielleicht neue, andere Ansätze brauchen für diese spezielle Situation. Wir von Travailsuisse haben beispielsweise eine Krisensteuer gefordert. Sprich: Jene Branchen, die wenige Ausfälle hatten, sollen im nächsten Jahr mehr Steuern bezahlen und damit die Verluste aus jenen Branchen ausgleichen, die durch die Krise stark gelitten haben. So könnten wir verhindern, dass durch die Ausgaben des Bundes, die er im Moment für die Wirtschaft tätigt, nicht Sparmassnahmen beschlossen werden. Dies würde die Menschen mit mittleren und tiefen Löhnen treffen.

Wir machen einen kurzen Exkurs: Auch Lernende sind Arbeitnehmer, die von der Krise betroffen sind. Welche Probleme werden bei der Berufsbildung zurzeit diskutiert?
Wir hatten am 9. April ein ausserordentliches Treffen um die Problematik in diesem Bereich zu besprechen. Uns ging es darum, dass alle Lernenenden, die in diesem Jahr einen Abschluss machen sollten, auch einen Abschluss machen können. Dieser sollte ausserdem gleichwertig sein, nicht dass es irgendwann heisst: «Ah, du hast in der Corona-Zeit deinen Abschluss gemacht? So einer bist du also …». Deshalb haben die Bildungsverantwortlichen der Sozialpartner mit Vertretern von Bund und Kantonen drei Modelle ausgearbeitet, wie die Prüfungen abgelegt werden können. In erster Linie geht es darum, die praktischen Prüfungen durchzuführen, damit die Lernenden auch beweisen können, dass sie ihren Job beherrschen und bereit für den Arbeitsmarkt sind. Im weiteren wird es eine Herausforderung sein, dass Schulabgänger in der kurzen noch verbleibenden Zeit eine Lehrstelle finden. Hier diskutieren wir
darüber, verspätete Lehreintritte zu erlauben.

Ich habe vorhin das Wort zumutbar gebraucht und möchte damit zum sogenannten «Lock-off» übergehen. Was halten Sie von den Massnahmen, die für das Ende des Lockdowns ergriffen wurden? Sind diese für die Arbeitnehmer zumutbar?
Ich finde, dass es richtig ist, die Öffnung etappenweise anzugehen. So oder so müssen wir aber auch künftig die Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit einhalten. Das Thema Social Distancing wird uns wohl vorerst weiterhin beschäftigen. Das Problem ist, dass wir mit dem Coronavirus leben müssen, solange es keinen Impfstoff dagegen gibt. Als Menschen sind wir aber sozial und auf Kontakte und Beziehungen angewiesen, sodass wir die aktuelle Situation kaum ständig aushalten können. Ich bin aber der Meinung, dass wir mit den getroffenen Massnahmen eine schrittweise Öffnung anstreben können und diese zumutbar ist.

Vor allem Menschen aus Risikogruppen muss man aber auch weiterhin schützen. Was raten Sie Arbeitnehmenden, die diesen angehören?
Seit gestern sind Vorgaben für Schutzkonzepte vom Bund veröffentlicht worden. Auf dieser Basis muss in den Branchen und Unternehmen je ein eigenes Konzept erarbeitet werden. Für die besonders gefährdeten Personen hat der Bundesrat in seiner Notverordnung neu mehrere Stufen definiert. Grundsätzlich sollen diese zu Hause arbeiten können, allenfalls mit einer Ersatzarbeit. Ist die Arbeit im Betrieb unabdingbar, gilt es organisatorische Massnahmen zu treffen, wie die Zuweisung eines Einzelbüros oder das Anbringen von Schutzscheiben. Ist das nicht möglich, soll auch hier eine Ersatzarbeit gesucht werden. Kann der Arbeitgeber die Vorgaben nicht erfüllen oder erachtet der Arbeitnehmende die Gefahr einer Ansteckung trotz Schutzmassnahmen als zu hoch, hat er das Recht unter Lohnfortzahlung zu Hause zu bleiben. Dafür braucht es eine persönliche Erklärung und der Arbeitgeber kann ein Arztzeugnis verlangen. Wer zur Risikogruppe gehört, wurde indes vom Bundesrat noch deutlicher definiert.

Es geht darum, die Ansteckungsgefahr tief zu halten. Folglich halten Sie dies für gewährleistet, richtig?
All diese Massnahmen wurden getroffen, damit Spitäler nicht überrannt werden und alle Patienten angemessen behandelt werden können. Das haben wir geschafft. Ich will die Auswirkungen des Virus nicht etwa herunterspielen, aber Fakt ist auch, dass es nicht in allen Fällen tödlich ist. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir damit leben müssen, denn solange kein Impfstoff vorhanden ist, bleibt die Gefahr weiterhin bestehen, dass man sich ansteckt. Deshalb ist der Schutz der besonders gefährdeten Personen so wichtig. Wir alle müssen uns weiterhin an die Distanz- und Hygienemassnahmen halten, aber damit erachte ich das Vorgehen des Bundesrats als vertretbar.

Wenn wir noch weiter nach vorne blicken, dürfen wir hoffen, dass die Wirtschaft ihren Tritt wieder findet. Dazu wird es zusätzliches Engagement von allen Seiten brauchen. Was sind Ihrer Meinung nach zulässige Zusatzefforts, die von den Arbeitgebern gefordert werden dürfen?
Letztlich hängt das nicht nur von den Zusatzefforts der Arbeitnehmenden ab. Die Schweiz exportiert viel und ist auf eine intakte Weltwirtschaft angewiesen. Ausserdem hat auch der Staat Instrumente, um die Wirtschaft anzukurbeln. Und nicht zuletzt ist es auch so, dass die Arbeitnehmenden in dieser Krise bereits einen grossen Beitrag geleistet haben. Viele verzichten durch die Kurzarbeit auf 20 Prozent ihres Lohnes oder setzen sich bei der Arbeit gesundheitlichen Risiken aus, um überhaupt arbeiten zu können. Die Unternehmen erhalten mit Kurzarbeit temporär eine Unterstützung, mit welcher die Erwartung verknüpft ist, dass sie auf Entlassungen verzichten. Zudem kann es nicht sein, dass Unternehmen mit Kurzarbeit ihren Aktionären Dividenden auszahlen.

Wie wird diese Krise Ihre Arbeit als Vorsteher von Travailsuisse verändern?
Eine Prognose zu stellen ist schwierig. Kurzfristig werden wir mit einem wirtschaftlichen Einbruch konfrontiert, die Arbeitslosenquote könnte auf sieben Prozent steigen. Dadurch wird es wirtschafts- und sozialpolitische Massnahmen brauchen.

Wie wird sich die Arbeit langfristig verändern?
Ich glaube, dass es eine Entkrampfung beim Thema Homeoffice geben wird. Ausserdem könnten sich Beschaffungsprozesse verändern. Dinge, die wir wirklich brauchen, werden vielleicht weniger aus Indien oder China importiert, sondern hier produziert. Ich mache mir aber keine Illusionen: Wenn es um Profite geht, dann wird sich das wahrscheinlich bald wieder ändern.

Dennoch könnte die Krise auch unsere Gesellschaft verändert haben.
Durchaus. Hoffen wir mal, dass das Social Distancing nur vorübergehend ist. Gerade jetzt merken wir, wie wichtig und wertvoll Kontakte für uns Menschen doch sind. Auch bemerken wir, welche Berufe wirklich wichtig sind, so denke ich, dass die Wertschätzung gegenüber Lehrern oder Detailhändlern und Pflegern steigen wird. Und vielleicht führt die Situation auch zu einem Umdenken in der Verteilung der Hausarbeit. Jetzt, wo mehr Zeit vorhanden ist, bemerken vielleicht auch Männer, was ihre Frauen leisten – oder umgekehrt.

Dann bleibt noch eine Frage: Was soll sich wegen und nach dieser Krise für den Arbeitnehmer verbessern?
Die Arbeitnehmenden sollen nicht den Preis der Krise bezahlen müssen. Entlassungen sollen vermieden werden. Wir haben zudem in dieser Krise gesehen, welche Berufe für die Gesellschaft sehr wichtig sind – Pflege, Detailhandel, Logistik. Das sind Branchen mit tiefen Löhnen, wo Verbesserungen angezeigt sind. Für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie braucht es auch einen Ausbau. Natürlich erhoffe ich mir, dass sich die Arbeitnehmenden wegen der Krise bewusst werden, dass Gewerkschaften und Personalverbände wichtig sind und Mitglied werden. Ausserdem hoffe ich, dass die Krise die Solidarität stärkt. Zuletzt kam der Individualismus immer stärker zum Tragen, dabei wären wir gemeinsam stärker. Auch das zeigt diese Krise deutlich. Oder wie es unter der Bundeshauskuppel in lateinisch geschrieben steht: Einer für alle, alle für einen.