• Jrene Burkhalter kann die Emmentaler Trachten aus dem Gedächtnis nähen. Links im Bild eine Gotthelftracht. · Bilder: Marion Heiniger

  • Der letzte Knopf kommt an das Mieder. Zwei Drittel einer Tracht werden von Hand genäht.

25.06.2020
Emmental

Jede Tracht ist ein Unikat

Trachten sind ein einmaliges Schweizer Kulturgut und sie überleben meist mehrere Generationen. Jrene Burkhalter ist eine der wenigen Trachtenschneiderinnen im Emmental, die das traditionelle Kunsthandwerk noch beherrscht und auch hauptberuflich ausübt. Sie kennt jedes Detail der verschiedenen Emmentaler Trachten aus dem Gedächtnis.

Affoltern · Sie gelten als edel, und es gibt sie nicht ab Stange zu kaufen. Die Emmentaler Trachten haben eine lange Tradition und sind regional sehr unterschiedlich. Gesamthaft gibt es im Emmental neun verschiedene, im ganzen Kanton Bern sind es sogar über 80. Jrene Burkhalter kennt jedes kleinste Detail der Emmentaler Trachten aus dem Gedächtnis. Sie ist eine der wenigen Frauen aus der Region, die das Kunsthandwerk der Trachtenschneiderei noch beherrschen.
Nach ihrer Ausbildung als Damenschneiderin und einer zweijährigen Weiterbildung als Trachtenschneiderin war sie zehn Jahre als Trachtenschneiderin angestellt. Vor 14 Jahren hat sie sich selbstständig gemacht. Seit 2011 lebt sie nun mit ihrer Familie in Affoltern und hat im Erdgeschoss ihres Einfamilienhauses ein grosses und lichtdurchflutetes Atelier eingerichtet.

Eine Tracht fürs Leben
Eine Tracht ist kein Kleidungsstück, das man nur einmal im Leben trägt. Trägt man zu ihr Sorge, kann sie von Generation zu Generation weitervererbt werden. So ist das Hauptgeschäft nicht die Anfertigung von neuen Trachten, von denen Jrene Burkhalter dennoch jährlich durchschnittlich fünf bis zehn Stück anfertigen darf, sondern Reparaturarbeiten oder Abänderungen nach Kundenwunsch.
Verarbeitet werden dabei fast ausschliesslich Naturmaterialien wie Wolle, Leine, Seide oder Baumwolle. Bei jeder einzelnen Tracht ist genau vorgeschrieben, wie sie auszusehen hat. So sind beispielsweise die Rock- und Schürzenlänge, die Form des Miederbogens oder auch die Art der Puffärmel je nach Trachtenmodell genau vorgegeben.

Naturfarben Rot, Blau und Grün
Längst hat Jrene Burkhalter die unterschiedlichen Details der neun verschiedenen Emmentaler Trachten im Kopf und weiss genau, wie, was, wo sein muss. Eine kleine künstlerische Freiheit bleibt ihr bei der Farbe der Schürzen. «Bei der Gotthelftracht beispielsweise, muss der Schürzenstoff längs gestreift und bei der Sonntagstracht geblumt sein, die Farben jedoch dürfen variieren», erklärt Jrene Burkhalter. Dabei müssen aber zwingend die Naturfarben Rot, Blau und Grün verwendet werden, Modefarben sind nicht erlaubt, damit die Trachten immer farblich zusammenpassen.

Genäht wird viel von Hand
Um eine Gotthelftracht von Grund auf neu herzustellen, rechnet Jrene Burkhalter mit einer reinen Nähzeit von 40 bis 45 Stunden. Dabei ist das Mieder der aufwendigste Teil, für das sie rund 20 Stunden braucht. Zusätzlicher Aufwand vom Zuschneiden des Stoffes bis hin zur Anprobe der Tracht an der Kundin kommen da noch hinzu. Die meiste Arbeit kann dabei nicht mit der Nähmaschine gemacht werden. «Etwa zwei Drittel der Tracht müssen von Hand genäht werden», so Jrene Burkhalter. Alles in allem hat die erfahrene Trachtenschneiderin eine Gotthelftracht in etwa eineinhalb bis zwei Wochen fertiggestellt. Kostenpunkt rund 3500 Franken. Allein der Materialpreis des hochwertigen Samtstoffes für das Mieder kostet über 300 Franken pro Laufmeter. «Hätte ich einen Stundenlohn wie ein Automechaniker, würde die Tracht rund dreimal so viel kosten. Dann würde sie aber niemand mehr kaufen», gibt sie zu bedenken.

Aufträge fielen weg
Damit ihr Beruf nicht in Vergessenheit gerät, ist es Jrene Burkhalter wichtig, ihr Wissen weitergeben zu können.Momentan ist bereits die vierte junge Frau bei ihr in Ausbildung. An zwei Tagen in der Woche bereitet sie sich mit der Hilfe von Jrene Burkhalter auf die Prüfung zur Trachtenschneiderin vor. Die Ausbildung dauert heute nicht mehr zwei Jahre, sondern sie wird nach Stunden gerechnet. Etwa 2000 Nähstunden innerhalb von zweieinhalb Jahren muss man vorweisen können, um sich für die Prüfung anmelden zu können. Diese dauert dreieinhalb Tage und beinhaltet neben der Fachkunde das Nähen eines Mieders einer Gotthelftracht.
Damit sie ihrer Auszubildenden genügend Arbeit zur Prüfungsvorbereitung bereitstellen kann, näht Jrene Burkhalter im Moment fast gar nichts mehr selbst. Denn die Coronakrise hat auch sie schwer getroffen. «Seit dem Lockdown geht gar nichts mehr, nicht mal das Telefon hat geklingelt», bedauert sie. Eine zu 30 Prozent angestellte Trachtenschneiderin musste sie deswegen entlassen. Zudem durfte sie bis Mitte Mai keine Kundinnen mehr in ihrem Atelier empfangen. «Um die Tracht bei den Kundinnen anzupassen, arbeite ich sehr nahe am Körper, den erforderlichen Abstand hätte ich nicht einhalten können», erklärt sie.
Um seit den Lockerungen wieder Kunden empfangen zu können, trägt Jrene Burkhalter einen selbst genähten, modischen Mundschutz. Doch mit viel Kundschaft rechnet sie noch nicht. Grössere Anlässe, bei denen Trachten getragen werden können, dürften wohl erst im nächsten Jahr wieder stattfinden können, vermutet sie.
Nun hofft Jrene Burkhalter auf kleinere Veranstaltungen wie Vereinskonzerte, die ihr wieder etwas Arbeit bescheren könnten. Bis dahin reicht ihr noch das finanzielle Polster aus, das sie in den letzten Jahren anlegen konnte.

Von Marion Heiniger