• Ruana Lüthi (links) und Caroline Weber investierten gemeinsam rund 150 Stunden in ihre Vertiefungsarbeit «Vom Gefängnis zurück in den Alltag». Der Aufwand hat sich gelohnt – ihre Arbeit wurde als die beste bewertet. · Bild: Liselotte Jost-Zürcher

08.03.2019
Langenthal

Keine dumme Idee – aber eine schwierige

Ruana Lüthi, Rohrbachgraben, und Caroline Weber, Madiswil, schliessen in diesem Jahr im SRO Spital Langenthal ihre Ausbildung als Fachfrauen Gesundheit (FaGe) ab. Ein grosses Etappenziel haben sie allerdings schon vorher erreicht – und mehr dazu: In der Berufsschule Langenthal haben sie den vom Lions Club Langenthal dotierten Preis für die beste Vertiefungsarbeit (VA) der Lernenden erhalten (der «Unter-Emmentaler» berichtete). Mit Selbstversuchen, Interviews und umfangreichen Recherchen gestalteten sie ihr Thema «Vom Gefängnis zurück in den Alltag».

«Ich dachte, das sei eine dumme Idee gewesen.» Endlos schienen für Ruana Lüthi die einsamen Stunden, eingeschlossen zuhause im Badezimmer, dahin zu schleichen. «Ich hatte kaum ein Zeitgefühl. Was mir vor allem zu schaffen machte, war die Tatsache, dass ich die Türe nicht öffnen konnte. Man hatte mir meine Selbstbestimmung genommen.» Hie und da, zwischen endlosen Stunden, wurde die Türe geöffnet, und eins der Familienmitglieder brachte etwas zu Essen. Ruana Lüthi, die Broccoli nicht besonders mag, hatte keine andere Wahl als auch diesen zu essen – es gab nur das, was auf dem Teller war.
Wenige Kilometer von Rohrbachgraben entfernt, in Madiswil, war ein anderes Badezimmer ebenfalls auf diese ungewöhnliche Weise besetzt. Dieses aber verfügte wenigstens noch über ein kleines Fenster und Tageslicht. «Ich hatte eine weiche Matratze mitgenommen und schlief erstmal stundenlange – so verging die Zeit ein bisschen schneller. Aber erst als Papa mir das Frühstück brachte, konnte ich ahnen, wie spät es war.» Caroline Weber begann, Plättli zu zählen. Aufgrund der Stimmen draussen versuchte sie zu erraten, wie spät es war. Sie war erleichtert und atmete tief auf, als die Eltern endlich die Türe aufschlossen und sagten: «Die 24 Stunden sind vorüber, du kannst rauskommen.»

«Versucht es selbst …»
Die beiden jungen Frauen hatten sich einem Einzelhaft-Selbstversuch unterzogen. Sie taten dies auf Anraten eines ehemaligen Straftäters, der insgesamt 30 Jahre lang hinter Gittern sass. Einzelhaft mache halb verrückt, erzählte ihnen der inzwischen 78-Jährige. «Versucht es selbst. Am besten in einem Badezimmer. Dort habt ihr alles was ihr braucht, und von der Grösse her entspricht es etwa einer Zelle.»
Gesagt, getan ... Aber Caroline Weber weiss: «Strafgefangene müssen dies manchmal auf unbestimmte Zeit hinaus aushalten. Ich wusste wenigstens, dass sich die Türe nach 24 Stunden wieder öffnen würde.»  Und dass ihnen anschliessend niemand mit schrägen Blicken begegnen würde.
Denn was der langjährige Straftäter sagte, ging den beiden Frauen unter die Haut: «Die schlimmste Zeit kommt erst nach der Haft.» Im Gefängnis sind die Häftlinge unter «ihresgleichen», draussen in der «Gesellschaft» stehen sie oftmals vor dem Nichts, sind Geächtete.
Noch viel hat der einstige Häftling den beiden Lernenden erzählt. Oftmals hatten sie während dem Gespräch Mühe, seinen Gedankensprüngen zu folgen. Dazu kam das ungewohnte Umfeld beim Interviewpartner zuhause. Das «Dürenang» und die Räucherstäbli mit dem betörenden Duft machten die Situation nicht besser: «Wir waren froh, draussen auf dem Balkon sein zu können.»
Schlussendlich verliessen sie erleichtert, aber auch ein bisschen bedrückt den Ort. «Er ist ein Mensch, der es nicht wirklich geschafft haben dürfte, den Weg in die Gesellschaft wieder zu finden. Wir haben viel gelernt. Beispielsweise ahnten wir bis anhin nicht, dass die Zeit nach der Haft schlimmer ist als der Gefängnisaufenthalt selbst.» Bei ihrem Selbstversuch war das immerhin anders ...
Zwei weitere Interviews kamen dazu, eins mit einem Straftäter, der in seiner 50%-Anstellung weiterarbeiten durfte, aber über Fussfesseln kontrolliert war. Der 22-Jährige musste von seiner Wohnung direkt zur Arbeit gehen und danach direkt wieder nach Hause. Abgesehen davon durfte er die Wohnung neun Monate nicht verlassen. Eigentlich wären es zwölf Monate gewesen, aber wegen guter Führung konnte er die Fussfesseln inzwischen ablegen. Dessen Fazit: «Lass dich nicht erwischen.»
Ruana Lüthi und Caroline Weber kommentierten diese Aussage gegenüber dem «UE» nicht weiter.

Schon einmal geklaut?
Das dritte Interview fand mit einer Mitarbeitenden der JVA Hindelbank statt, die aufzeigte, dass strafgefangene Frauen durchaus schon während der Haftzeit Gelegenheit erhalten, sich durch Bildungsangebote im Gefängnis, Kurse und Attest-Lehren auf die «Zeit danach» und damit auf die Reintegration in die Gesellschaft vorbereiten können. «Die Inhaftierten werden jeweils auch gewarnt, ins frühere Umfeld zurückzukehren. Insbesondere im Drogenmilieu sei die Rückfallgefahr gross», so die jungen Frauen im Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler».
Ihre Umfrage, bei welcher 72 Personen in jeder Alterskategorie mitmachten, erstaunte sie sehr. Zwar waren die Antworten anonymisiert, doch: «Wir waren verwundert, wieviele Leute sich dazu bekannten, schon einmal gestohlen zu haben.» Die also eigentlich straftätig waren. Dazu wurden weitere Delikte angegeben wie etwa zuschnelles Fahren, «das aber jedem passieren kann.» Im Weiteren konnten sich die Befragten dazu äussern, ob ihrer Meinung nach straftätige Migranten ausgeschafft werden müssten, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden sollte, ob «Fernsehen im Gefängnis» Luxus bedeute.
Im Vorfeld recherchierten die beiden jungen Frauen alles rund um die Begriffe Untersuchungs-, Sicherheits- und Strafhaft, streiften dabei auch andere Kulturen, bei denen die Massnahmen vielfach weit rigoroser sind.

Eine zweite Chance erhalten
Aus dem Zusammengetragenen entstand eine Arbeit, die ihnen zeigte, dass auch hinter Strafgefangenen verletzliche Menschen stehen, «die eine zweite Chance erhalten sollten, um es wieder auf die Reihe zu bringen», wie Ruana Lüthi meinte.
Rund 150 Stunden haben die beiden Lernenden in ihre Arbeit investiert. Dass sie den Preis gewinnen würden, haben sie nicht erwartet. Die Präsentation in der Schule lag schon eine Weile zurück, und für sie schien die Vertiefungsarbeit vorerst abgeschlossen. Für die Preisverleihung mussten sie Diverses wieder «auffrischen», aber auch dieser erneute Aufwand hat sich für sie gelohnt. Aus 19 nominierten Teams holten sie sich zusammen mit zwei lernenden Polymechanikern die zwei vom Lions Club Langenthal verliehenen Preise. Nun aber dürfen sich Ruana Lüthi und Caroline Weber endgültig dem Endspurt für die Lehrabschlussprüfung FaGe widmen. Anschliessend werden sie dem SRO Spital Langenthal zumindest vorläufig den Rücken kehren und – weiterhin gemeinsam – die Weiterbildung an der HF Bern in Angriff nehmen.

Von Liselotte Jost-Zürcher