• Im Umgang mit der neuartigen Situation hätten Lehrer und Schüler Kreativität bewiesen, findet Matthias Mürner. · Bilder: Leroy Ryser

  • So wie Erwachsene hätten auch Schüler sich erst ans Homeoffice gewöhnen müssen, sagt Pierre Zesiger. «Die Katze miaut, der Vater kocht Kaffee und ich muss mich konzentrieren.»

  • 7d-Klassenlehrer Samuel Schmid doziert hin und wieder mittels Videobotschaft. · Bild: zvg

30.03.2020
Huttwil

Neue Situation, neue Schwierigkeiten und neue Lösungsansätze

Von null auf hundert anders unterrichten – diese Herausforderung wurde in Huttwil gut gemeistert, sind Pierre Zesiger, Oberstufenschulleiter, und Matthias Mürner, Schulleiter Kindergarten- und Primartufe überzeugt. Dass die neue Situation Herausforderungen birgt und die Folgen nachhallen könnten, ist ihnen bewusst. Zugleich sehen sie aber auch die Vorteile, die daraus entstehen. Mit dem «UE» haben sie darüber gesprochen.

Leroy Ryser im Gespräch mit Pierre Zesiger, Schulleiter Oberstufe, und Matthias Mürner, Schulleiter Kindergarten- und Primarstufe

Matthias Mürner und Pierre Zesiger sitzen für das Interview mit dem «Unter-Emmentaler» beide in angemessener Distanz am grossen Tisch im Empfangsbereich der Hofmattschule. Gleichzeitig empfängt Oberstufenlehrer Samuel Schmid gestaffelt einzelne Kinder und entsendet sie in sein Schulzimmer. «Ein paar analoge Lehrmittel – also Bücher beispielsweise – müssen noch abgeholt werden», erklärt der Huttwiler. Als er die Schüler begrüsst, weist er sie sofort darauf hin, dass der Abstand gewahrt werden muss. Und: «Niemand umarmt den anderen», scherzt er. Einer nach dem anderen holt dann seine Sachen im Schulzimmer, nach wenigen Minuten ist die organisierte Abholung von Material erledigt. Der Klassenlehrer der 7d verteilt zum Abschluss noch jedem ein paar Schokoladen-Eier, denn schliesslich steht auch Ostern vor der Türe. Derweil greifen wir das Thema Homeschooling auf und diskutieren über die ersten Erfahrungen, Probleme, Herausforderungen und Lichtblicke. Und darüber, wie sich die Situation weiterentwickeln könnte.

Pierre Zesiger und Matthias Mürner, seit über zwei Wochen gibt es keinen Präsenzunterricht mehr, unterrichtet wird nur noch aus der Ferne. Was sind die ersten Erkenntnisse daraus?
Mürner: Heute sind wir froh, dass wir schon vor dem Lockdown frühzeitig reagiert haben. Pierre Zesiger hat damals darauf beharrt, dass wir entscheidende Schritte schon am Freitag einleiten, damit wir vorbereitet wären, sollte der Fall eintreten, dass die Schulen schliessen. Das war im Nachhinein ein grosser Vorteil.

Von welchen Vorkehrungen sprechen wir?
Mürner: Wir haben schon am Freitag per E-Mail einen Elternbrief versandt und darin informiert, dass es sein könnte, dass die Schule geschlossen wird und dass wir dementsprechend wieder informieren würden, wenn es so weit käme. So war schon früh alles vororganisiert. Auch die Lehrpersonen wurden gebrieft und konnten sich deshalb schon am Wochenende eigenständig auf die neue Situation vorbereiten.
Zesiger: In der Oberstufe habe ich beispielsweise vorgegeben, dass alle Schüler am Freitag das Streambook mit nach Hause nehmen müssen. So konnten wir schon früh den Unterricht sicherstellen, auch wenn nicht alle gleich viel analoges Schulmaterial zu Hause hatten.

Blicken wir zuerst auf die ersten Tage. Wie haben Sie beide den Start erlebt?
Mürner: Zuerst haben die Lehrpersonen der Kindergarten- und Primarstufe alles Schulmaterial gesammelt und den jeweiligen Schülern nach Hause gebracht. Bereits am Dienstag konnten wir erste Aufträge verteilen. Schon vor dem Ausbruch des Virus hatten wir von allen Eltern entsprechende Daten, sodass die Kontaktaufnahme per E-Mail oder Mobiltelefon von Anfang an gut geklappt hat.
Zesiger: Wir haben am Freitag noch für jeden Schüler eine Schul-E-Mail-Adresse eingerichtet, damit alle mühelos kontaktiert werden konnten. Danach wurde die Abholung von Material organisiert und gestaffelt ausgeführt. Und grundsätzlich wird seither mindestens im Zwei-Tages-Rhythmus eine Information an unsere Lehrer herausgegeben, wie sich die aktuelle Situation darstellt. Ebenso versenden wir über unser Sekretariat auch ständig Informationen an die Eltern.

Diese sind in der aktuellen Situation verstärkt in der Pflicht.
Mürner: Das stimmt, der Aufwand für die Eltern ist gestiegen. Zugleich kann es aber auch eine Chance sein und bereits jetzt haben viele Eltern positiv darauf reagiert.

Wir kommen auf die Herausforderungen des Homeschooling später nochmal zu sprechen, zuerst aber eine andere Frage: Was waren die ersten Herausforderungen, die sich den Lehrpersonen stellten?
Mürner: Zu Beginn haben die Lehrer eher zu viele Aufträge verteilt. Sie fühlten sich unter Zugzwang. Die Kinder sollten beschäftigt sein und entsprechend genügend Arbeit haben. Aktuell gehen wir aber eher nach dem Prinzip «Weniger ist mehr», vor. Während Kindergartenschüler ihre Aufträge in 30 bis 60 Minuten pro Tag erledigen können, sind Sechstklass-Schüler oder Oberstufenschüler schon etwas mehr und länger gefordert. Aber wir wollen in dieser Situation den Druck nicht noch zusätzlich und unnötig erhöhen.
Zesiger: Nicht unterschätzen darf man in dieser Zeit auch den Auftrag der Schulsozialarbeit. Schüler, die zu Hause Probleme haben, in Extremfällen sogar geschlagen werden, haben nun einen erschwerten Zugang zu Hilfe. Natürlich betreiben wir diese Angebote weiterhin. Das gilt auch für die Erziehungsberatung. Aber der Weg ist ein anderer geworden, weil man den helfenden Personen derzeit nicht im Alltag begegnet. Wenn es in Familien schon vor dem Virus kriselte, wird die Situation durch das ständige Zuhausesein nicht unbedingt besser. Hier mache ich mir Sorgen um die Kinder.

Wie hat sich der Alltag für die Lehrpersonen verändert?
Mürner: Der Erfahrungsaustausch fehlt – oder er ist zumindest anders geworden. Zuvor haben wir uns oft im Lehrerzimmer unterhalten. Vor allem auch, wenn man Probleme in einzelnen Situationen hatte oder spezielle Herausforderungen bewältigen musste, dann half das Gespräch mit anderen Lehrpersonen sehr. Wir versuchen das auf anderen Wegen aufrecht zu erhalten. Ohne Handy geht das jetzt aber nicht mehr.
Zesiger: Das gilt generell. Lehrpersonnen sind ja auch Menschen aus unserer Gesellschaft mit Problemen abseits des Schulalltages. Die ganze Situation, sei es die Angst oder auch die Belastungen zu verarbeiten, ist derzeit eine grosse Schwierigkeit.

Sie haben vorhin vom Balanceakt der Aufgabenmenge gesprochen. Eigentlich ist das nicht anders, als im gewöhnlichen Schulalltag auch. Es gibt Schüler, die schneller sind, andere sind weniger schnell.
Zesiger: In dieser Situation stehen aber andere Probleme im Vordergrund. Schüler sind sich nicht ans Homeoffice gewöhnt. Während sie Matheaufgaben lösen müssen und Konzentration brauchen, miaut nebenan die Katze, der Vater macht sich einen Kaffee und die Mutter kommt dazu und fragt, wie es einem geht. Die gleichen Herausforderungen, denen Erwachsene im Homeoffice begegnen, lernen nun auch Kinder kennen.Und: Vor allem Schüler mit reduzierten Lernzielen brauchen besondere Betreuung. Hier in der Schule erklären wir die Aufgabe vielleicht ein zweites Mal auf eine andere Weise. Doch wie bewerkstelligen wir sowas jetzt?

Ich kann Ihnen beiden als Schulleiter diese Frage gleich direkt stellen.
Mürner: Mit Kreaitivität. Lehrer wie auch Kinder gehen mit dieser Situation sehr kreativ um. Es werden neue Möglichkeiten erschaffen, um Aufgaben herauszugeben oder um Aufgaben zu kontrollieren. Ein Lehrer kreiert ein Quiz, ein anderer Lehrer macht kurzerhand ein Youtube-Video. Hier entstehen unterschiedliche Ideen.
Zesiger: Der Pragmatismus, der diese Situation hervorruft, ist eigentlich genial. Die Entscheidungswege werden viel kürzer. Anstatt alles von Komissionen zu überprüfen und alles auseinander zu nehmen, müssen wir jetzt und schnell handeln.

Pragmatismus und Kreativität alleine genügen aber nicht: Letztlich gibt es Lernziele, welche die Kinder erreichen müssen, sei es um eine weiterführende Schule oder eine berufliche Laufbahn einschlagen zu könnnen. Das Ausbleiben des Präsenzunterrichtes könnte gravierende Folgen haben.
Zesiger: Das ist eine schweizweite Herausforderung. Wenn wir bis zum Sommer keinen Präsenzunterricht mehr haben, werden wir nicht den gleichen Output haben wie sonst. Wäre nämlich kein Unterschied zu erkennen, könnten wir das Homeschooling beibehalten. Die möglichen Folgen sind uns bewusst und damit werden wir umgehen müssen – Schüler, Lehrbetriebe oder auch Lehrer und Schulen.

Vor allem aber Schüler, die schon vorher Mühe hatten, könnten jetzt noch weiter zurückgeworfen werden.
Mürner: Das hängt sehr von den Verhältnissen ab, in denen sie leben. Anstatt einer Lehrperson, die für 20 Kinder zuständig ist, ist nun eine Mutter oder ein Vater alleine für sie zuständig. Dadurch kann das Lernprogramm besser auf die einzelnen Kinder eingestellt werden, was Vorteile mit sich bringen kann. Dies hängt aber davon ab, inwiefern Eltern die Möglichkeit haben, den Kindern zu helfen.
Zesiger: Das ist zweifellos eine grosse Herausforderung, bei der wir als Lehrpersonen gefordert sind. Der Vorteil ist, dass wir die Kinder mindestens seit September kennen – und nicht erst seit einem Monat. Auch Elterngespräche haben schon in allen Klassen stattgefunden. Wir können einschätzen, welche Kinder von uns mehr Betreuung gebrauchen und bei welchen Kindern man sich mehr auf die Eltern verlassen kann.

Eine weitere entscheidende Herausforderung ist die Beurteilung der Leistung, die letztlich auch mit dem Einfluss der Eltern zusammenhängt. Das Schreiben von Tests kann nicht länger beaufsichtigt werden und grundsätzlich weiss man nicht, wie viel beispielsweise die Eltern nachhelfen oder die Schüler schummeln und Bücher zu Rate ziehen.
Zesiger: Hier appellieren wir an die Schüler und deren Eltern. Ich sage immer: Ehrlichkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften. Das ist entscheidend für alle Menschen in allen Lebenssituationen.

Können Leistungen aber tatsächlich für bare Münzen genommen werden wie sonst?
Zesiger: Wir gehen davon aus, dass wir Leistungen etwas grosszügiger beurteilen müssen. Letztlich sind aber zwei Punkte entscheidend: Wer in der Schule betrügt, betrügt auch zu Hause, wer es in der Schule nicht tut, wird es auch zu Hause nicht unbedingt tun. Ausserdem kennen wir wie gesagt die Schüler. Jene in meiner Klasse, die einen Dreierschnitt haben und dann zu Hause ständig Sechser schreiben, werde ich vor den Sommerferien, wenn die Schule hoffentlich wieder normal läuft, einem mündlichen Test unterziehen, um den Fortschritt zu überprüfen. Sowieso waren bisher aber noch keine Lernkontrollen geplant. Wir werden in dieser Woche an einer Sitzung noch darüber sprechen, wie wir vorgehen wollen.

Damit können wir gleich den Blick in die Zukunft starten: Was ist geplant, wie geht es weiter?
Zesiger: Wir gehen heute davon aus, dass wir auch nach den Frühlingsferien noch keinen Präsenzunterricht haben werden. Eine Möglichkeit ist es, anstelle von Lernkontrollen Lernbestandsüberprüfungen durchzuführen. Auch kann man in diversen Fächern Fragen anders formulieren. Anstatt Wissensfragen werden Interpretationsfragen vielleicht wichtiger. Schüler sollen zeigen, wieso sie etwas wissen. Und: Beurteilung könnten dann mit Worten, statt mit Noten erfolgen.
Mürner: Bei uns in der Kindergarten- und Primarstufe sind Beurteilung glücklicherweise noch nicht ganz so wichtig, mir persönlich ist die Freude am Lernen wichtiger. Wir versuchen das weiterhin zu fördern. Aber auch wir wollen wissen, wie weit unsere Schüler sind und was sie gelernt haben. Entsprechend werden wir hier Lösungen finden müssen.
Zesiger: Letztlich werden wir versuchen, Rahmenbedingungen zu setzen und darüber auch die Eltern in Kenntnis setzen. So, dass wir beispielsweise sagen: Um 10 Uhr schreiben alle einen Test, wir bitten die Eltern, sich in dieser Stunde etwas zurückzuhalten. Wirklich zum Thema wird das aber erst nach den Frühlingsferien. Es ist gut möglich, dass wir dann einen Testlauf machen und die Situation neu beurteilen.

Ziehen wir zum Abschluss dieses Gesprächs quasi ein Fazit. Mittlerweile sind wir in der dritten Woche Homeschooling und kurz vor den Ferien angelangt. Wie zufrieden sind Sie mit den Resultaten in dieser Situation?
Zesiger: Es ist eine grosse Herausforderung, aber ich denke, wir wachsen daran. Ich bin grundsätzlich zufrieden, denn die Gespräche die ich führe, sei es mit Lehrpersonen oder Eltern, sind grundsätzlich sehr positiv.
Mürner: Wichtig ist, dass wir nicht stehen bleiben. Wir lernen derzeit alle. Die Kinder, die Eltern und die Lehrer und Schulzentren. Ich denke, gerade auf die zweite Woche hin konnten wir einen Sprung nach vorne machen und schon viel verbessern. Das alles ist aber auch eine gute Erfahrung. In dieser Situation können wir den Kindern beispielsweise verstärkt Selbstständigkeit vermitteln. Auch wenn ich mir diese Situation nicht regelmässig wünsche, können wir auch hier positive Schlüsse ziehen.