• Ueli Bärtschi mit der Kuh «Lagonira», dessen Mutter «Lagonera» er ebenfalls wegen verschluckter Glasscherben verloren hat. · Bilder: Marion Heiniger

  • In einem solchen Graswalm hat Ueli Bärtschi vor zwei Jahren Glasscherben gefunden, die zum Tod von sieben seiner Kühe führten.

  • Unachtsam weggeworfener Abfall kann zu massiven Problemen bei Kühen führen.

30.09.2022
Oberaargau

Qualvoller Tod wegen Abfallsünder

«Abfall macht mich krank!» – so lautet eine Kampagne gegen Littering in der Landwirtschaft. Abfall unachtsam am Strassenrand liegengelassen, macht Kühe, wenn sie Teile davon fressen, nicht nur krank, sondern kann auch zu einem qualvollen Tod führen. Landwirt Ueli Bärtschi aus Lotzwil kann dies aus eigener, leidvoller Erfahrung bestätigen. Er verlor sieben Kühe durch Glasscherben.

Lotzwil · Den 13. Oktober 2020 – es war ein Dienstag – wird Ueli Bärtschi sein Leben lang nicht mehr vergessen können. Frühmorgens machte er sich mit Traktor und Ladewagen auf den Weg, um für seine 22 Kühe Gras zu holen. Frisch und saftig stand es auf der Wiese, die gleich an der Strasse nach Langenthal unmittelbar neben der Jufer AG und dem Tankstellenshop liegt. «Beim Mähen, Aufladen und auch beim Abladen ist uns noch nichts aufgefallen. Doch als wir den Kühen das Gras zum Fressen gaben, haben wir plötzlich Glasscherben gehört», erinnert sich der 47-jährige Landwirt schmerzlich. Sofort wurde das Gras wieder aus den Futterkrippen entfernt. Auch das restliche, noch nicht in der Krippe liegende Gras wurde genauestens unter die Lupe genommen. «Auch dort haben wir noch mehrere Glasscherben und sogar eine ganze Weinflasche gefunden.» Dass seine Kühe bereits etwas von dem kontaminierten Gras erwischt hatten, wusste Ueli Bärtschi zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Als er am nächsten Morgen in den Stall ging, bemerkte er sogleich, dass seine beste Kuh im Stall, «Candy», schlecht frass. Sofort wurde die Tierarztpraxis kontaktiert. «Eine Kuh, die viel Milch gibt (zu diesem Zeitpunkt gab sie 45 Kilogramm Milch pro Tag, da sie frisch gekalbt hatte) und nicht richtig frisst, ist schnell schwach», erklärt der Bauer.
Die Tierärztin traf ein. Als erste Massnahme wurde ein Magnet in den Magen der Kuh hinabgelassen. Doch nichts blieb daran haften. Unterstützend verabreichte die Ärztin Schmerzmittel, Antibiotika und Entzündungshemmer. Für Ueli Bärtschi war rasch klar, dass die einen Tag zuvor entdeckten Glasscherben im Gras die Ursache des schlechten Allgemeinbefindens von «Candy» sein mussten. «Ein oder zwei Tage ging es ihr nach der medikamentösen Behandlung etwas besser, danach aber plötzlich wieder sehr schlecht», erinnert er sich. Kurz drauf verweigerte auch die Kuh «Armana» die Futteraufnahme. Die Tierärztin diagnostizierte eine Labmagenverlagerung, verursacht durch einen Fremdkörper. «Der Labmagen liegt normalerweise auf der rechten Seite der Kuh, dieser hatte sich aber nach links verlagert und der Kuh unsägliche Schmerzen verursacht», erklärt Ueli Bärtschi. «Armana» wurde gleichentags operiert und ist heute noch die einzige Kuh im Stall von Bärtschis, welche vor zwei Jahren das mit Glasscherben verunreinigte Gras gefressen hatte.

Ein Drittel des Bestandes verloren
Durch den Vorfall am 13. Oktober 2020 hat Ueli Bärtschi bis heute sieben Kühe verloren, ein Drittel seines Bestandes. Abgesehen von «Candy» und «Armana» traten die Symptome der anderen Kühe erst zu einem späteren Zeitpunkt bei der nächsten Abkalbung auf. «Schluckt eine Kuh einen Fremdkörper, wird dieser im Magen oft eingekapselt, sodass er keinen Schaden mehr anrichten kann. Durch Stress wie beispielsweise bei einer Geburt kommt es jedoch häufig vor, dass diese Kapsel wieder aufreisst», erklärt Ueli Bärtschi. So geschehen bei «Ar-mana». Nach der Geburt entwickelte sich in ihrem Magen ein Geschwür, das aber erfolgreich behandelt werden konnte. Dennoch möchte Ueli Bärtschi keine weitere Trächtigkeit mehr riskieren, um ihr weiteres Leid zu ersparen. «Ich werde sie wohl oder übel in den nächsten Wochen oder Monaten ebenfalls zum Schlachter bringen müssen – das wäre dann die achte Kuh, die ich wegen der Glasscherben verliere.»
Bei «Candy» hatte sich nichts eingekapselt, sie musste bereits zwei Wochen nach dem Vorfall mit den Glasscherben notgeschlachtet werden. «Das war für mich sehr schlimm. Ende September 2020 war ich mit ihr noch an der Viehschau in Leimiswil. In ihrer Kategorie war sie die schönste Kuh. Und einen Monat später musste ich sie bereits hergeben», erzählt der Bauer traurig. Zum Schlachten brachte er sie zu einem regionalen Metzger, der ihm später mitteilte, dass zwar die Glasscherben nicht mehr lokalisiert werden konnten, er aber im Darm von «Candy» mehrere Blutungen festgestellt hatte.
Noch heute wühlt Ueli Bärtschi dieses Thema sehr auf. Er sieht jede seiner Kühe, die er wegen den Glasscherben verloren hatte, vor sich und weiss noch genau wie sie aussahen, was sie geleistet hatten und auch mit welchen Problemen sie zum Schluss kämpften. «Den Kühen sieht man die Schmerzen nicht immer an. Eine Kuh gibt nicht auf, sondern kämpft sehr lange, um zu überleben», weiss Ueli Bärtschi aus leidvoller Erfahrung.
Nur eine dieser Kühe hatte er bei der Versicherung angemeldet, um den finanziellen Schaden in Grenzen zu halten. Den emotionalen Schaden jedoch kann ihm niemand vergüten. Neben den sieben Kühen, die bereits ihr Leben durch die Glasscherben lassen mussten, hat Ueli Bärtschi noch weitere drei Kühe zum Schlachten bringen müssen. Die Ursache ihres Leidens konnte aber nicht abschliessend mit dem Glasscherben-Vorfall in Verbindung gebracht werden. Dies ändert jedoch nicht, dass er unterdessen von seinen ursprünglich 22 Kühen nur noch deren 12 im Stall stehen hat.

Starker Bezug zu den Kühen
Schon als kleiner Junge war Ueli Bärtschi stets im Stall anzutreffen und entwickelte so früh einen starken Bezug zu den Kühen. Auch durfte er jedem neugeborenen Kalb einen Namen geben. «Als Zucht- und Aufzuchtbetrieb hänge ich sehr an den Tieren. Ich kenne die ganze Linie, denn bereits die Mütter, Grossmütter und Urgrossmütter unserer Kühe haben wir aufgezogen», erzählt der leidenschaftliche Landwirt stolz, dessen Eltern und auch seine Frau tatkräftig auf dem Hof mithelfen. Durch den starken Bezug zu seinen Tieren merkt Ueli Bärtschi schon bei sehr kleinen Veränderungen, wenn beispielsweise eine Kuh anders dasteht oder den Kopf anders hält, dass etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb beschäftigt ihn der damalige Vorfall noch heute stark. Er kann nicht verstehen, wieso Menschen den Abfall am Strassenrand einfach liegenlassen und vermutet deshalb, dass viele Leute sich mit der Thematik Landwirtschaft gar nicht mehr auskennen oder sich mit ihr nicht auseinandersetzen wollen und deshalb nicht wissen, welche schlimmen Auswirkungen es auf die Tiere haben kann. Aus dem Frust heraus wandte er sich damals an die Polizei. Doch wenn diese, so teilten sie ihm mit, die Verursacher nicht in Flagranti erwischen würden, seien auch ihnen die Hände gebunden. «Und wenn sie doch jemanden erwischen, dann sind die Bussen viel zu tief, sie sollten meiner Meinung nach mindestens 1000 Franken betragen», zeigt sich Ueli Bärtschi kämpferisch. Umso wichtiger erachtet er auch den jährlichen Littering-Tag, den die Gemeinde Lotzwil jeweils organisiert, um die Leute zu sensibilisieren. Doch es seien leider immer nur die gleichen rund 20 bis 25 Personen, welche an diesem Tag säckeweise Abfall vom Strassenrand aufheben.

Die Angst sitzt tief
Die Milchwirtschaft und die Viehzucht wegen Littering aufzugeben, kommt für Ueli Bärtschi zurzeit nicht infrage, doch diesbezügliche Gedanken hat er sich schon öfters gemacht. Denn seit dem traurigen Vorfall vor zwei Jahren schläft er nicht mehr sonderlich gut. Die Angst, am Morgen in den Stall zu gehen und wieder eine Kuh vorzufinden, die möglicherweise einen Fremdkörper verschluckt hat, sitzt tief. Um dem so gut es geht vorzubeugen, lässt er nun die ersten drei bis fünf Meter des Grases an der Strasse entlang stehen und fängt erst weiter hinten an zu mähen. Denn noch immer findet er auf dieser Wiese Glasflaschen, welche unachtsam weggeworfen wurden. Die gleichen Rosé-Weinflaschen, dessen Scherben vor zwei Jahren ihm und seinen Kühen dieses unsägliche Leid verursacht haben.

Von Marion Heiniger