• Ein Stück Langenthaler Industriegeschichte lebt auf dem Porzi-Areal wieder auf: In der Porzellan-Ausstellung im «Werk20». · Bild: Walter Ryser

  • Ein altes Handwerk, das bei Ruckstuhl seit 1881 gepflegt wird und auch in Zukunft Bestand haben soll: Hochwertige Teppiche weben. · Bild: Walter Ryser

  • Ein Stück Langenthaler Industriegeschichte lebt auf dem Porzi-Areal wieder auf: Im neuen Restaurant «przi rest lthal». · Bild: Walter Ryser

  • Beim Porzifest konnte neues Kunsthandwerk bestaunt werden. · Bild: Walter Ryser

25.08.2022
Langenthal

Rundgang durch Langenthals Geschichte

In die Industriegeschichte Langenthals eintauchen konnten die Besuchenden bei einem Rundgang über das Porzi-Areal. Eine Porzellan-Ausstellung im «Werk20», offene Türen bei der Teppichfabrik Ruckstuhl, die Eröffnung des «przi rest lthal» sowie das Porzifest ermöglichten den Gästen spannende Einblicke in frühere und heutige Aktivitäten auf dem geschichtsträchtigen Areal.

Langenthal · Das Porzi-Areal in Langenthal ist ein «Schmelztiegel» verschiedenster Gewerbe-, Kunst- und Kulturbetriebe. Diese gewährten während eines ganzen Tages den Besuchern spannende Einblicke in ihr vielfältiges Schaffen und Wirken. Ein interessantes Stück Langenthaler Industriegeschichte wurde im «Werk20» präsentiert. In den 1950er-Jahren wurden die Fabrikhallen erstellt, in denen bis 1997 Porzellan hergestellt wurde. 1998 hat die Firma Ruckstuhl die Hallen übernommen und ein Jahr später ihren Firmensitz dorthin verlegt. Wo früher aus Kaolin, Feldspat und Quarz edles Porzellan gebrannt wurde, werden heute von der Firma Ruckstuhl erstklassige Teppiche hergestellt – alle aus natürlichen Materialien.
Nebst Ruckstuhl sind heute auch weitere, unabhängige Firmen und Kulturschaffende im «Werk20» ansässig. In einer dieser Hallen wird die Geschichte des Langenthaler Porzellans sichtbar. Ein Film blickt zurück auf die Blütezeit der Porzellanherstellung in Langenthal. Im Mittelpunkt der Aus­stellung stehen jedoch die Sammelstücke von Christoph Studer. Der 69-jährige Oberländer sammelt Mineralien, technische Gerätschaften und seit 14 Jahren auch Langenthaler Porzellan. Dabei fesselt ihn nicht das Dekor, sein Interesse gilt vielmehr der Kehrseite des Porzellans, der Identität des guten Stücks. Seine Frau Julia brachte das Porzellan in den gemeinsamen Haushalt. «Mir gefiel es nicht sonderlich», gesteht der am Brienzersee wohnhafte Pensionär.

Vielfältige Bodenstempel
Weil das Paar bald mehr als genug Geschirr hatte, gab es einen Teil an eine Händlerin weiter. Diese liess zum Dank eine Liste da. Sie enthielt verschiedene Bodenstempel des Langenthaler Porzellans, die Zeugnis darüber ablegen, wann das Porzellan entstanden ist. Christoph Studer glich die Stempel auf dieser Liste mit dem Geschirr zu Hause ab – und stellte fest, dass sie nicht komplett war. Damit war sein Ehrgeiz geweckt.
Das erste eigene Verzeichnis dieser Stempel umfasste drei Seiten. Über viele Jahre ist der Nachweis Studers auf 33 Seiten angewachsen. Er dokumentiert nicht nur zahllose Stempel, sondern zeichnet auch die Herstellung des Langenthaler Porzellans nach. Und viele Besuchende dürften sich beim Rundgang durch die Ausstellung an frühere Zeiten und Reisen ins Ausland erinnert haben, als man in fremden Restaurants und Hotels beim Essen als erstes die Porzellanteller und Tassen umdrehte und nachschaute, ob es sich hierbei um Langenthaler Porzellan handelte.

Seit 140 Jahren werden Teppiche produziert
Ein paar Schritte weiter tauchte man in ein weiteres Kapitel Langenthaler Industriegeschichte ein. Die Ruckstuhl AG ist seit 1881 ein Hersteller für textile Bodenbeläge in höchster Naturfaser-Qualität. Ruckstuhl beschäftigt heute nach wie vor rund 25 Mitarbeitende und verkauft seine Produkte via Fachhandel in mehr als 20 Länder. «Weil wir letztes Jahr wegen Corona unseren 140. Geburtstag nicht feiern konnten, haben wir uns entschlossen, mit einem Tag der offenen Tür der Bevölkerung Einblick in unsere Produktion zu gewähren», erzählt Adrian Berchtold, der vor einem Jahr zusammen mit Valentin Baumann die Aktienmehrheit der damaligen Ruckstuhl-Besitzerin CoOpera übernommen hat. «Es ist uns ein Anliegen, die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass es uns, die Firma Ruckstuhl, nach wie vor gibt und dass wir weiter hochwertige Teppiche hier in der Schweiz und in Langenthal produzieren», gibt Berchtold weiter zu verstehen.
Die beiden neuen Inhaber sind überzeugt, dass es sich nach wie vor lohnt, in der Schweiz eine Teppichmanufaktur mit eigener Weberei zu betreiben. «Wir finden sogar, dass es nichts Schöneres gibt, als Produkte mit Wert und Kultur zu erschaffen und ein traditionelles Handwerk in die Zukunft zu tragen», erwähnt Adrian Berchtold. Gleichzeitig stellt die Herstellung dieser Teppiche eine grosse Herausforderung dar. Denn bedingt durch die Schliessung vieler Schweizer Textilwebereien über die letzten Jahrzehnte, sind Spezialisten für das Weberhandwerk in etwa so einfach zu finden wie die berüchtigte Nadel im Heuhaufen.

«Maschine 21» als Herzstück
Aber auch im Bereich der Maschinen sind die neuen Inhaber gefordert. Seit den 1960er-Jahren ist die Kokos-Rutenwebmaschine, «Maschine 21» (M21), in Betrieb, die der ganze Stolz der Firma ist. Der Hersteller der «Maschine 21» existiert jedoch seit Längerem nicht mehr, Ersatzteile sind auf dem freien Markt nicht mehr zu finden und Mechaniker für Maschinen dieser Art gibt es in der Schweiz vielleicht noch eine Hand voll. Teile werden deshalb in der hauseigenen Werkstatt repariert oder müssen von Kunstschlossern oder in Spezialwerkstätten anhand des defekten Teils mit ent­-
sprechenden Ausfallzeiten reproduziert werden.
Da es solche Maschinen heute eigentlich nicht mehr gibt, ist man bei Ruckstuhl auf Lieferanten und Spezialisten angewiesen, die manchmal kleine Wunder möglich machen: Die Weberschiffchen (Stückpreis 1000 Franken) erstellt eine Schreinerei in der Nähe, welche die Herstellung aufgrund nicht mehr verfügbarer Technologie neu perfektioniert hat. Für das Schleifen der Rutenmesser habe man die vielleicht beste Messerschleiferei der Schweiz auf einem Bauernhof in der Region aufgespürt, die eine Schleifmaschine umkonstruiert hat und in höchster Präzision die Messer herstellt, die die harten Kokosfasern aufschneiden.

Kein gleichwertiger Ersatz
Da drängt sich natürlich die Frage auf, weshalb Ruckstuhl denn keine neue Webmaschine kauft, die moderner gesteuert wäre, mehr Output böte und einfacher zu reparieren wäre? Die Antwort ist laut Adrian Berchtold einfach: «Selbst wenn wir eine neue Webmaschine anschaffen wollten, würden wir wahrscheinlich keine mit vertretbarem Aufwand finden, die auch nur annähernd die Solidität besässe, um unsere Kokosteppiche in gewohnter Qualität zu weben. Zudem bleibt zu sagen, dass Ausfälle bei der ‹Maschine 21› dank sorgfältiger Wartung zum Glück sehr selten sind. Ruckstuhl will sich nicht durch Masse, sondern viel mehr durch Qualität vermehren. Wir hegen und pflegen unsere ‹Maschine 21› und tragen zu ihr viel Sorge, dass sie uns noch lange erhalten bleibt.»
Auf der gegenüberliegenden Strassenseite bot das traditionelle Porzifest Einblicke in Handwerker-Kleinbetriebe, in die Arbeit von Kultur- und Kunstschaffenden und natürlich auch in die Räumlichkeiten des neu eröffneten «przi rest lthal», das neue Gastro-Haus auf dem Porzi-Areal, das die beiden Inhaber Philippe Giesser und Peter Frei in der ehemaligen Ofenhalle eingerichtet haben und hier betreiben werden.

Von Walter Ryser