• Seit Anfang Jahr haben Anja Schütz (links), Katrin Obrecht und Dan Weber mit den Kindern die vorgefertigten Spielsachen in die Ferien geschickt. Die Kinder bestimmen selber, wie der Kindergarten aussieht. · Bild: Thomas Peter

  • Mit Hilfe des Blauen Stuhls können Kinder und Lehrpersonen Probleme ansprechen. · Bild: Thomas Peter

  • Die Kinder schaffen sich mit einfachen Gebrauchsgegenständen ihre eigene Kindergartenwelt. · Bild: zvg

16.02.2023
Langenthal

Spielzeugfreier Kindergarten sorgt für Freiheiten

Ein Kindergarten ohne vorgefertigtes Spielzeug: Geht das? Anfang 2023 haben Katrin Obrecht, Anja Schütz und Dan Weber gemeinsam mit ihren Lan­genthaler Kindergartenkindern Puppen, Eisenbahn, Legos, Puzzles und vieles mehr für drei Monate in die Ferien geschickt und dafür Tücher, Kartonkisten, Seile oder Klebebänder bereitgestellt. Seither bestimmen die Kinder selber, wie sie diese «Dinge» nutzen oder was sie damit bauen wollen. Die drei Lehrpersonen ziehen nach etwas mehr als einem Monate ein erstes, sehr positives Fazit.

 

Langenthal · Bunte Tücher, aufeinandergeschichtete Boxen, Zeitungen, auf dem Kopf stehende Stühle: Es wirkt ein wenig wild und − zumindest auf den ersten Blick − unübersichtlich chaotisch in den Räumlichkeiten des Kindergartens Talstrasse 3 in Langenthal, wo der 31-jährige Dan Weber unterrichtet. Und zu allem scheinbaren Durcheinander fehlen noch jene Spielgeräte oder Tablets, die sonst so hoch in der Gunst der Kinder stehen. Hier haben aber keine Einbrecher ihr Unwesen getrieben, vielmehr ist alles so, wie es gegenwärtig sein soll. Denn die Kinder bestimmen seit Anfang Jahr für drei Monate, wie der Kindergarten aussehen soll. Sie bauen Zelte, Hütten, Türme, Flugzeuge, Kinobestuhlungen oder einen Zirkus, brechen sie wieder ab und bauen wieder Neues, ganz nach ihren eigenen Ideen. An keinem Tag sieht der Kindergarten aus wie am nächsten, alles ist im Fluss. Ein ähnliches Bild bietet sich in den Kindergarten von Katrin Obrecht (Klus 2) und Anja Schütz (Hard 2). Die drei Kindergartenlehrpersonen haben nach den Weihnachtsferien zeitgleich ein Projekt in die Tat umgesetzt: Ein spielzeugfreier Kindergarten. Wozu denn das? Was läuft denn falsch im «normalen» Kindergarten, dass man zu solch «radikalen» Massnahmen greift?

Viele Kinder können sich nicht alleine beschäftigen
Anja Schütz winkt beim «falsch Laufen» sogleich ab. «Ich mag den normalen Kindergartenalltag auch sehr, es war nicht so, dass ich unzufrieden war. Ich wollte einfach eine neue Form ausprobieren und damit Erfahrungen sammeln.» Dezidierte Beweggründe nennt Dan Weber: «Ich habe festgestellt, dass sich viele Kinder nicht mehr alleine beschäftigen können.» Diese Kinder brauchten stets eine erwachsene Person, die sie anleitet oder animiert. Aber auch die emotionale Bindung zu den Spielsachen sei vielerorts verloren gegangen. «Ich hatte die Kinder einmal eingeladen, ihr absolutes Lieblingsspielzeug mitzubringen. Nach dem Kindergarten blieben aber viele Spielsachen hier liegen, wurden nicht mit nach Hause genommen.» Es schien so, als ob es den Kindern nicht so wichtig sei, wenn das Lieblingsspielzeug kaputt ginge, weil sie ja dann ein neues erhalten würden.

Spielzeuge geben vor, wie mit ihnen gespielt werden muss
«Manche Kinder wissen auch gar nicht, was sie anfangen sollen mit jenen Spielsachen, die wir ihnen anbieten und die für uns Lehrkräfte eigentlich von pädagogischem Wert sind», findet Katrin Obrecht. «Ich stellte mir die Frage, wie es wohl sein wird, wenn man all das einfach weglassen würde. Wie würden die Kinder reagieren, wenn man ihnen nur noch Tücher und Klammern anbietet. Was machen sie damit?» Das wollte die 38-Jährige herausfinden. «Es ist heutzutage so viel vordefiniert, was die Kinder mit den jeweiligen Spielsachen machen sollen, dass sie nur noch in geringem Mass mitdenken müssen», bedauert Dan Weber. Damit gebe es kaum Spielraum für die eigene Kreativität. «Wenn die Kinder aber entdecken, dass sie selber den Dingen eine Rolle und eine eigene Bedeutung geben können, dann ist das ein enormer Schritt für sie.»

Kinder geben den Weg selber vor
Im vergangenen Jahr hatten die drei Kindergartenlehrpersonen gemeinsam einen Kurs bei der Suchtprävention Aargau mit Fokus auf den spielzeugfreien Kindergarten besucht, der sie gemeinsam den Entschluss fassen liess, dies in Langenthal in den jeweiligen Unterricht zu integrieren. Dabei berichteten andere Lehrpersonen über ihre bisherigen Erfahrungen. «Vieles konnte ich aufnehmen. Doch es wurde auch immer wieder betont, dass jeder seine eigene Arbeitsweise hat und letztendlich selber entscheidet, was er wie umsetzen will», erklärt Dan Weber. «Wenn wir am Kurs Fragen stellten, wie man was am besten macht, hiess es immer: Wie würdest du es machen? Jede und jeder macht es wieder anders. Aber eigentlich sollen nicht die Lehrpersonen, sondern die Kinder und die vorhandenen Räumlichkeiten den Weg vorgeben, in welche Richtung es gehen soll», ergänzt Katrin Obrecht. «Wir Lehrpersonen müssen uns zurücknehmen. Das ist für uns allerdings nicht ganz einfach: Wir sind uns gewohnt, den Kindern oftmals vorzugeben, was im Kindergarten geschieht. Jetzt im Projekt sehen wir, dass es mit deutlich weniger geht und die Kinder erst noch viel Freude daran haben.» Ähnlich sieht es Anja Schütz. «Wenn die Kinder die ganze Zeit bespasst werden, dann wird es ihnen auch schneller langweilig.» Beim spielzeugfreien Kindergarten haben sie in diesem ersten Monat aber bereits ganz andere Erfahrungen sammeln dürfen. Die Kinder nehmen «Langeweile» anders wahr. «Die Kinder haben die Freiheit, einfach mal zuzuschauen, zu beobachten, aufzunehmen und eigene Ideen zu entwickeln. Sie haben die Zeit dazu», so Dan Weber. Niemand dränge sie, etwas zu tun, sie werden aus Eigeninitiative aktiv. «Mir scheint, uns Erwachsenen ist teilweise Vertrauen abhandengekommen, dass es schon gut kommt», vermutet Katrin Obrecht. «Wir Lehrpersonen fühlen schnell mal den Impuls, einzugreifen, wenn etwas nicht wie erwartet läuft.»

Keine geführten Einheiten mehr
Wie aber sieht denn der neue Kindergartenalltag aus? Gewisse Bereiche wurden beibehalten wie etwa das Geburtstagsritual, der Waldmorgen, Exkursionen, Turnstunden, Spezialunterrichte und auch die Hausregeln gelten nach wie vor. Geändert hat sich aber vieles im Ablauf. «Sonst hatten wir ein festes Programm, sassen wir im Kreis zusammen und ich führte durch den Tag. Jetzt kommen die Kinder zu uns und können sofort zu spielen beginnen. Sie sind viel freier, entscheiden wann und wo sie ihr Znüni essen wollen. Das finden sie cool», schildert Anja Schütz. «Ab 10.30 Uhr wird etwas aufgeräumt, danach machen wir eine kleine Auswertungsrunde, in der die Kinder darüber berichten, was sie gemacht haben und was für Gefühle sie dabei hatten», schildert die 28-Jährige. «Es gibt eigentlich keine geführten Einheiten mehr und alles Material ist für alle sofort und gleichzeitig zugänglich», ergänzt Dan Weber.
Also ein Easy-peasy-Alltag, bei der die Lehrperson nichts mehr vorbereiten muss und nur beobachtet? «Nein», meint Dan Weber lachend. «Aber es schafft uns Raum und Ressourcen für andere Aufgaben.» Während er vorher das «Herr Weber hier, Herr Weber da» 100 Mal täglich gehört hatte, so sei es jetzt noch etwa 10 Mal. Bereits im ersten Monat beobachte er eine extreme Veränderung bei den Kindern. So gebe es ganz neue Gruppenkonstellationen, die es vorher nie gegeben habe. «Kinder, die sich vorher spinnefeind waren, lernen aneinander neue Seiten kennen und spielen jetzt zusammen.»
Katrin Obrecht hat aber auch festgestellt, dass es vereinzelt Kinder gibt, die sich wohl fühlten, als der Morgen noch klare Strukturen hatte und nach gewissen Regeln ablief. «Das gab ihnen Sicherheit.» Deshalb gebe es auch Kinder, die vorher kreativ am Unterricht teilnahmen, aber sich mit der neuen Form etwas verloren fühlten. «Das kann man natürlich nicht einfach so bleiben lassen, sondern muss das − auch in Absprache mit den Eltern − angehen und diese Kinder begleiten und unterstützen.» Für den Grossteil der Kinder sei das aber ein grandioses Projekt, betont Katrin Obrecht.

Der Blaue Stuhl
Und Konflikte gibt es keine mehr? «Wenn ein Kind ein Problem hat, dann gibt es den Blauen Stuhl. Das Kind setzt sich darauf und läutet die Glocke. Dann versammeln sich alle und das Kind kann sein Problem schildern. Die anderen können Ideen einbringen, wie man das Problem lösen kann. Das Kind kann sich dann für eine Idee entscheiden und schauen, ob sie funktioniert», erklärt Anja Schütz. Am Anfang habe sie noch mehr Hilfestellungen für Ideen geben müssen, jetzt gehe es aber schon deutlich besser. Die bisherigen Hausregeln gelten weiterhin und die Kinder könnten zum Beispiel darauf verweisen.
Auch die Lehrperson hat die Möglichkeit, den Blauen Stuhl zu nutzen. «Wir wollen die Kinder so lange begleiten, wie sie es brauchen. Es gibt aber auch Situationen, zum Beispiel, wenn die Kinder handgreiflich werden, bei denen die rote Linie überschritten wird. Dann kommt nicht der Blaue Stuhl zum Tragen und wir greifen so ein wie vorher auch», lässt Katrin Obrecht durchblicken. «Unsere Rolle ist aber eine ganz andere als bisher. Man muss sich als Lehrperson in Zurückhaltung üben und verschiedene Situationen erst einmal beobachten.» Das widerspreche vielleicht etwas dem Lehrernaturell mit einer klaren Rollenverteilung. «Damit begebe ich mich aus der eigenen Komfortzone hinaus», so Katrin Obrecht. «Es war auch für uns wie für die Kinder ein Prozess, da hineinzufinden», bestätigt Anja Schütz.

Reaktionen eher zurückhaltend
Die Kinder wurden zu Beginn mit dem Buch von Susanne Wasserfallen (Projektverantwortliche von Suchtprävention Aargau) auf den spielzeugfreien Kindergarten eingestimmt. Dan Weber zum Beispiel hatte in der ersten Woche die Kinder gefragt, welche Spielzeuge zuerst in die Ferien geschickt werden sollen. «Spannend war der Prozess bei der Abstimmung. Die Kinder hatten sehr unterschiedliche Wünsche, fanden aber immer einen Konsens.» Erstaunlich sei dabei gewesen, dass die Tablets zu den ersten Spielsachen gehörten, welche verabschiedet wurden.
Wie aber waren die Reaktionen der Eltern und anderer Lehrpersonen? «Ein Vater hat am Elternabend gefragt, ob die anderen Kindergärten, die das Projekt schon durchgeführt haben, noch stehen», schmunzelt Anja Schütz. Am Elternabend vor den Herbstferien habe es da und dort schon etwas geschockte Gesichter gegeben, doch seit das Projekt laufe, habe sie noch keine Rückmeldung erhalten. «Bei mir haben die Eltern grundsätzlich sehr wohlwollend reagiert. Im Vordergrund standen mehr Sicherheitsfragen wie zum Beispiel, was passiert, wenn ein Kind auf ein Möbel steige. Oder es kam die Befürchtung auf, dass das Kind nicht isst, wenn es keine fixe Znünizeit mehr gibt», blickt Katrin Obrecht auf den Elternabend zurück. Und wie reagierten andere Lehrpersonen? «Einige Lehrpersonen kannten den spielzeugfreien Kindergarten schon und andere sind darauf gespannt, wie die Umsetzung in den Kindergärten anlaufen wird», lässt Dan Weber durchblicken.

Respekt vor der Rückkehr zur alten Form
Im Verlaufe des Februars findet ein freiwilliger Elternabend mit Austauschmöglichkeit statt. Ab den Frühlingsferien ist dann das Projekt beendet und es gibt eine kleine Auswertung. Danach kehrt in den drei Kindergärten wieder der Normalbetrieb ein. «Ich habe vor der Rückkehr zur bisherigen Form mehr Respekt als umgekehrt, weil ich sehe, dass diese neue Form so vielen Kindern entspricht», gibt Katrin Obrecht unumwunden zu. Für Anja Schütz ist denn auch jetzt schon klar: «Wir werden sicher gewisse Formen in den Normalbetrieb übernehmen. Bisher legten wir fest, wie viele Kinder wo spielen dürfen. Das sollen sie künftig selber entscheiden können.» Und Katrin Obrecht ergänzt: «Die Kinder haben mehr Autonomie erhalten und davon wollen wir einen Teil hinübernehmen.»

Von Thomas Peter