• Dr. Ying Li hat durch eine jahrelange Ausbildung viel Erfahrung in der Akupunktur und kennt die rund 400 Stimulationspunkte · Bild:zvg

  • Bei der Moxibustion werden die Akupunkturpunkte durch Wärme stimuliert. · Bild:zvg

  • Die Traditionelle Chinesische Medizin erfordert viel Handarbeit. · Bild: zvg

17.02.2022
Huttwil

TCM: Kleine Nadel, grosse Wirkung

Alternative Heilmethoden, welche sich als Ergänzung zur Schulmedizin immer grösserer Beliebtheit erfreuen, sind auch in unserer Region etabliert. Eine davon ist die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), die bereits seit tausenden von Jahren in China praktiziert wird. Vor zwölf Jahren eröffnete in Huttwil die erste Praxis der TCM Oberaargau. Seither kamen drei weitere Praxen hinzu. Genau so lange ist Dr. Ying Li als leitende TCM-Therapeutin in Huttwil an vorderster Front. Sie verfügt über eine grosse Erfahrung und kennt sich auch in der westlichen Medizin bestens aus.

Huttwil · Der Unterschied zwischen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) und der westlichen Schulmedizin liegt an den grundsätzlich verschiedenen Ansätzen. Während es in der westlichen Medizin für alles einen Spezialisten gibt und dieser nicht immer über eine ganzheitliche Betrachtungsweise verfügt, bezieht sich ein TCM-Therapeut auf den gesamten Menschen und die Zusammenhänge zwischen den Beschwerden und der Lebenssituation. Dies spiegelt sich besonders im Diagnoseverfahren wider. Die TCM behandelt deshalb nicht die Krankheit, sondern den kranken Menschen und sucht nach der Ursache. Der Therapeut denkt dabei sehr vernetzt und betrachtet Körper, Seele und Geist in einem ganzheitlichen Ansatz. Daher spielen die Lebensumstände wie auch die emotionalen Einflüsse bei der Anamnese (Erfragen der Beschwerden und Geschichte des Patienten) eine grosse Rolle.
«Die Traditionelle Chinesische Medizin ist eine Erfahrungsmedizin und basiert auf jahrelanger Ausbildung», erklärt Wuling Fang, Initiantin und Leiterin der vier TCM Oberaargau Praxen in Huttwil, Langenthal, Herzogenbuchsee und Niederbipp. Diese Erfahrung brachte die TCM-Therapeutin Dr. Ying Li ganz klar mit, als sie vor zwölf Jahren die Leitung der TCM Praxis in Huttwil übernahm. Sie machte ihren Bachelor-Abschluss an der Nanjing University of Chinese Medicine. Darauf folgte der Masterabschluss und durch Promotion erlangte sie den Doktortitel. Alles in allem hat Dr. Ying Li 13 Jahre ihrem Studium gewidmet. Dabei hat sie nicht nur die Traditionelle Chinesische Medizin sondern auch die westliche Medizin studiert und verfügt über umfassende Kenntnisse beider Methoden. Zum Vergleich: Die Ausbildung zum TCM-Therapeuten erfolgt in der Schweiz berufsbegleitend und dauert drei bis vier Jahre.

Zunge und Puls
Vor einer TCM-Behandlung werden zuerst in einem ausführlichen Erstgespräch die Symptome und der Verlauf der Krankheit wie auch die Lebensumstände erfragt. Anschliessend wird der Puls abgetastet und die Zunge betrachtet. Die dadurch gesammelten Informationen werden zu einem aussagekräftigen Befund zusammengesetzt und ein individueller Therapieplan erstellt. «Wir schauen, hören und riechen», fasst Dr. Ying Li zusammen. Erst in einer zweiten Sitzung erfolgt die eigentliche Behandlung. Bei der Zungendiagnostik wird die Farbe, der Belag und die Form der Zunge genau betrachtet. «Eine ganz rote Zunge deutet zum Beispiel auf Hitze im Körper hin», erklärt die Ärztin. Eine dunkle Farbe hingegen weist auf eine Blockade im Körper hin, wie sie etwa bei Durchblutungsstörungen oder Kreislaufproblemen auftreten. Zungenbeläge können Anzeichen für Veränderungen im Körper sein. Doch nicht immer ist die Zungendiagnostik gleich wichtig. «Wenn wir ein Rezept für Kräuterbehandlung verschreiben, schauen wir die Zunge genauer an, als wenn jemand mit einem Tennisellbogen zu uns in die Praxis kommt.» Bei der Pulsdiagnostik wird der Puls an beiden Handgelenken jeweils an drei Stellen ertastet. Hierbei werden rund 30 verschiedene Pulsarten wahrgenommen, welche den verschiedenen inneren Organen zugeordnet werden können. «Ich kann bei der Pulsdiagnostik erkennen, ob die Organe zu schwach oder zu stark arbeiten und ob die Energie blockiert ist oder gut fliessen kann», erklärt Dr. Ying Li.

Akupunktur, die sanfte Heilmethode
Vor jedem neuen Behandlungstermin wird der Patient oder die Patientin wiederum nach dem Befinden befragt sowie nochmals Zunge und Puls kontrolliert. «So kann ich schnell auf die momentane Situation reagieren und den Therapieplan kurzfristig anpassen», so die 57-jährige Ärztin.
Behandelt wird in der Regel mit Akupunktur. Sie ist eine hochwirksame, nebenwirkungsfreie und sanfte Heilmethode und wird bereits seit Jahrtausenden in China praktiziert. Seit den 70er-Jahren findet sie auch in der westlichen Welt immer mehr an Bedeutung. Die rund 400 verschiedenen Akupunkturpunkte können differenziert stimuliert werden. Bei der klassischen Akupunktur werden Nadeln unterschiedlicher Dicke angewendet.
Eine weitere Möglichkeit ist die Reizung der Punkte durch Wärme (Moxibustion), dabei werden stark gepresste Kräuter in unterschiedlicher Form erhitzt und in die Nähe der Akupunkturpunkte gebracht. Die Behandlung soll den gestörten Energiefluss im Organismus normalisieren und die Selbstheilung anregen.
Jeder dieser Punkte steht in Verbindung mit einem Organ oder Organkreis und hat eine genau definierte Heilwirkung. Schmerzen sind während der Behandlung normalerweise keine zu erwarten. Dennoch gibt es Patienten und Patientinnen, die beim Stecken der Nadel von Schmerzen berichten. «Ja, das kann vorkommen. Die Finger weisen beispielsweise mehr Nerven in der Haut auf als ein Arm. Die Akupunktur ist Handarbeit. Wenn man sehr nahe an einem Blutgefäss einsticht, kann es schon ein wenig weh tun, der Schmerz ist aber in aller Regel nur leicht und aushaltbar», erklärt Dr. Ying Li. Zudem gebe es Patienten, welche sich aus Angst verkrampfen oder grundsätzlich empfindlicher auf Schmerzen reagieren. In der Regel dauert eine Akupunkturbehandlung 50 bis 60 Minuten.
Im Durchschnitt braucht es bei akuten Problemen zwischen zehn und zwölf Sitzungen, um eine ganzheitliche Besserung zu erzielen. Je nach Krankheitsbild wird die Behandlung individuell gestaltet. «Bei chronischen Krankheiten ist die Behandlung zu Anfang intensiver, danach werden bei einer Verbesserung der Symptome auch längere Pausen zwischen den Sitzungen eingelegt und teilweise nur noch bei erneutem Auftreten der Beschwerden behandelt», sagt Dr. Ying Li, die Deutsch, Englisch und Chinesisch spricht. Ebenfalls kann es in seltenen Fällen vorkommen, dass sich die Symptome nach einer Behandlung verstärken.
«Bei einer Schmerztherapie kann es nach der Behandlung Reaktionen geben wie beispielsweise verstärkte Schmerzen oder Juckreiz, diese Reaktion dauert aber maximal ein bis zwei Tage», weiss die Ärztin aus Erfahrung. Diese Reaktionen können aber auch andere Ursachen haben und sind nicht immer auf die Behandlung zurückzuführen. «Wenn man sich zum Beispiel nach einer Behandlung körperlich betätigt, da man sich sehr gut fühlt, kann es vorkommen, dass sich die Schmerzen dadurch wieder verstärken, oder ein wetterfühliger Patient reagiert auf die Bise, welche kurz nach der Behandlung auffrischt», erklärt die Ärztin.

Kombination mit Kräutern
Etwas weniger häufig als die Akupunktur und eher bei chronischen Krankheiten kommen in der Traditionellen Chinesischen Medizin Heilkräuter zum Einsatz. «Ich kombiniere die Behandlung mit den Heilkräutern, wenn die Akupunktur zu wenig Linderung verschafft», sagt Dr. Ying Li. Anders als in China, wo traditionellerweise die Kräuter als Tee zubereitet werden, werden sie in der Schweiz mit ausschliesslich zugelassenen Kräutern in Tablettenform hergestellt und neuerdings auch als Sirup für Kinder angeboten.
Ebenfalls eine tragende Rolle spielt die Ernährungsberatung. Sie kann jedoch nicht eins zu eins mit der uns bekannten Ernährungsberatung verglichen werden. Gesundes Essen ist zwar auch bei der TCM ein sehr wichtiges Thema, jedoch schaut man hierbei auch den Patienten oder die Patientin genauer an. «Stellt man durch eine ganz rote Zunge eine innere Hitze fest, sollte man auf scharfe Lebensmittel wie Chili, Zwiebeln oder Knoblauch verzichten, da diese die Hitze verstärken», erklärt Dr. Ying Li, die in ihrer Freizeit gerne kocht und wandern geht.
Dass die Traditionelle Chinesische Medizin in unserer Region bestens etabliert ist, zeigt die gute Zusammenarbeit mit über 40 Hausärzten, welche ihre Patienten und Patientinnen immer wieder an die TCM Oberaargau überweisen.
Eine direkte Terminvereinbarung ist für alle Interessierten jederzeit möglich. «Wir haben zwar viele Patienten, welche ihre Behandlungen selbst bezahlen, hat man aber bei der Zusatzversicherung die Komplementärmedizin abgedeckt, übernimmt die Krankenkasse die Kosten», erklärt Wuling Fang. Den Patienten wird jedoch aufgrund der unterschiedlichen Krankenversicherungsmodelle empfohlen, auch mit einer Zusatzversicherung eine Kostengutsprache einzuholen.

Von Marion Heiniger