• Kindliche Neugierde – Illustration G. Roux – im Buch Frutiger, Kirche Lützelflüh. · Bild: zvg

04.02.2021
Emmental

Vive la Republique! Vive la Suisse!

Die Emmentaler und Oberaargauer Bevölkerung hat die Bewährungsprobe im Winter 1871 beim Grenzübertritt der «Bourbaki-Armee» und bei der Internierung der fremden Soldaten mit Bravour bestanden. Humanitäres Engagement in der jungen Schweiz vor 150 Jahren.

Emmental / Oberaargau · Der Deutsch-Französische Krieg dauerte von Juli 1870 bis Februar 1871 und endete mit der vollständigen Niederlage Frankreichs. Die unter Führung von General Charles Denis Soter Bourbaki stehenden französischen Truppen sollten die Festung Belfort aus der deutschen Umklammerung befreien und dann von Süden her die deutschen Versorgungslinien unterbrechen. Mit 130 000 Mann war Bourbakis Armee zwar stark, insgesamt allerdings nur ein zusammengewürfelter, unkoordinierter Haufen. Sie konnte ihren Auftrag nicht erfüllen. Auf der deutschen Seite kam modernste Technik zum Einsatz. Gegen Ende des kalten Januar 1871 wurden Bourbakis Truppen gegen die Schweizer Grenze abgedrängt und dort festgeklammert. Bourbaki verübte einen Selbstmordversuch, sein Nachfolger wurde General Justin Clinchant. Am 29. Januar wurde in Versailles ein Waffenstillstand unterzeichnet, der die Gebiete, in denen die Bourbaki-Armee stand, ausdrücklich ausnahm. Clinchant wurde nicht über diese wichtige Ausnahme informiert und liess in Unkenntnis der Situation die Kampfhandlungen einstellen. Der deutsche General Manteuffel nutzte die Verwirrung auf französischer Seite dazu aus, alle grösseren Strassen zu blockieren und so die Bourbaki-Armee im Raum Pontarlier einzuschliessen. General Clinchant wurde von den Ereignissen überrascht, war aber nicht bereit, seine Soldaten von der Deutschen Armee gefangen nehmen zu lassen. Er wählte als letzten Ausweg den Übertritt in die Schweiz.

Migrationsherausforderung für die junge Schweiz
Zwischen dem 1. und 3. Februar 1871 traten 87 000 Mann mit 1200 Pferden entlang des Waadtländer und Neuenburger Juras über die Schweizer Grenze. Sie wurden entwaffnet und bis zum Friedenseintritt in der Schweiz untergebracht. Die Hauptrouten des Grenzübertritts waren Les Verrières (34 000 Mann), Ste-Croix (13 000 Mann), Vallorbe und Ballaigues (28 000 Mann) sowie vor allem das Vallé de Joux (12 000 Mann).
Für den jungen Schweizer Staat – mit damals bloss 2,6 Millionen Einwohnern – stellten die Aufnahme und Internierung einer solch grossen Armee eine enorme Herausforderung dar. Der damaligen Armeeorganisation fehlte die notwendige Logistikinfrastruktur in den Bereichen Sanitäts- und Veterinärwesen und vor allem auch in der Lebensmittelversorgung. Die von Aarau bis Zweisimmen an rund 235 Orten über die ganze Schweiz verteilten Soldaten mussten durch die Bevölkerung versorgt werden. Allein im Kanton Bern waren es in 45 Gemeinden knapp 20 000 Internierte.
Mit der Aufnahme der Bourbaki-Armee zeigte sich, dass Neutralität nicht Abseitsstehen und Zuschauen bedeutet; dies umso mehr, als auch das 1866 in Bern gegründete Schweizerische Rote Kreuz seinen ersten Hilfseinsatz leistete und während sechs Wochen die medizinische Versorgung unterstützen musste. Der Neutralitätsgedanke erhielt durch diese Ereignisse eine humanitäre Komponente und Solidarität wurde zum Markenzeichen des jungen Bundesstaates Schweiz.

Geheizte Kirche in Lützelflüh
In der Chronik «Die Gotthelf-Kirche in Lützelflüh» hat Max Frutiger einen höchst beachtlichen Beitrag über die internierten Bourbaki-Soldaten festgehalten, die am 11. Februar 1871 in der «… geheizten Kirche ein weiches Strohlager vorfanden, und auch an Verpflegung fehlte es nicht. Der «Ochsen»-Wirt Johann Albert Haueter lieferte Rindfleisch, das Pfund zu 60 Rappen, und die Gebrüder Schönholzer sorgten für Brot, das Pfund zu 20 Rappen …» Das waren noch Zeiten: solche Preise – und eine solche Offenheit und Hilfsbereitschaft gegenüber den Fremden, die auch grassierende Krankheiten wie Blattern, Typhus, Geschlechtskrankheiten verbreiteten und von Läusen geplagt waren!
Zur möglichen Verhütung von Feuergefahr wurde der Brandmeister angewiesen, die Feuerspritze in der Nähe der Kirche zu platzieren und Wasser in Gefässen im Quartier selbst bereitzustellen. Eine Massnahme, die offenbar in Kirchdorf im Gürbetal nicht getroffen wurde. Dort heizten die Internierten den Ofen so stark ein, dass die Überhitzung Feuer entfachte und die Kirche in Schutt und Asche verwandelte!

«Sch … huus ghei um!»
Alfred Zingg, gewesener Lehrer in Affoltern i.E., erzählt in seiner Dorfchronik von Jugenderinnerungen eines gewissen Wegmeisters Mumen­thaler, der als junger Mann die Internierten am 11. Februar 1871 kommen und am 22. März des selben Jahres wegziehen sah: «Die Soldaten, die in unser Dorf kamen, mühsam sich daher schleppend, konnten einen erbarmen. Gekleidet waren sie in dünne, schlechte Uniformen. Keiner trug rechte, solide Schuhe. Um die erfrorenen Füsse hatten sie schmutzige Tücher gewickelt. Die durchrittenen Strapazen, die Kälte, der Hunger, dazu das Elend und das Heimweh, das alles hatte einen jeden gezeichnet. Niemand verstand sie recht; auch jene nicht, die glaubten, etwas französisch sprechen zu können. (In Frankreich gibt es halt auch Dialekte.) Die Hilfsbereitschaft war spontan und gross. Schon war eines der grösseren Schulzimmer bereit, denn die Anmeldung war der Ankunft vorausgegangen. Der Stubenboden war dick bedeckt mit Stroh und der grosse Zylinderofen verbreitete eine wohlige Wärme. Ein Korb voll Äpfel stand bereit. Nachdem die müden Gesellen sich etwas erholt, sich erwärmt hatten und in bessere Kleider geschlüpft waren, setzten sie sich zu einer kräftigen, heissen Suppe. Wie in andern Dörfern gingen auch im Schulhaus von Affoltern viele Liebesgaben ein: Schuhe, Beinkleider, Strümpfe und Lebensmittel. Besonders dankbar waren die Soldaten für ein Glas Wein. Schon bald einmal fand auf Reinhards Brückstock jeden Abend ein Hauptverlesen statt. Einmal hat es so sehr «geluftet und geregnet», dass während dem Hauptverlesen ein Latrinenhäuschen im Freien umgeweht wurde. Da rief der diensttuende Schweizeroffizier mit lauter Stimme: «Sch… huus ghei um!»

Vive la Suisse!
Frutiger berichtet in seiner Lützelflüh-Chronik auch über die offenbar höchst emotionalen Abschiedsmomente, die am 16. März mit einer Feier der Fremden mit den Einheimischen im Ochsen stattgefunden hatte. So sollen die Internierten den Gastgebern wie folgt gedankt haben: «Bewohner von Lüt­zelflüh! Bevor wir den gastfreundlichen Boden Helvetiens verlassen, verdanken wir Ihnen im Namen der Internierten die grosse Sorge, die Sie während der Zeit unseres Aufenthaltes für uns entfalteten. Wir nehmen nach Frankreich das Andenken Ihres Eifers mit, mit dem Sie unser Leben erleichterten …, wir werden unsere Nachkommen belehren, den Namen der Schweiz, unseres zweiten Vaterlandes, zu segnen. Vive la Republique! Vive la Suisse! war der einstimmige Ruf der Soldaten …»

Kostspielige Spuren
Allerdings hinterliessen die Internierten hier und dort deutliche Spuren ihres Aufenthaltes. So auch in der Kirche Lützelflüh, wo defekte Böden, Wände, Bänke und Stühle gereinigt und renoviert werden mussten. Die Gesamtkosten der Internierung mit Einschluss der Kirchenrenovation beliefen sich im Gotthelf-Dorf auf 13 339 Franken, die von der Gemeinde, vom Kanton und vom französischen Staat getragen wurden. Dieser Betrag erscheint allerdings recht bescheiden im Gesamtvolumen aller Forderungen, die die Schweizer Regierung an Frankreich in Rechnung stellte. Nachdem aber die Franzosen im Sommer 1872 die letzte Tranchen der geforderten 12,2 Millionen Franken anstandslos überwiesen, gab die Schweiz die eingesammelten Waffen, Gewehre, Säbel und Kanonen zurück.
Leider nicht ganz unfallfrei verlief im Übrigen die Rückführung eines Teils der in der Schweiz internierten Soldaten. Am 22. März 1871 verunglückte ein Zug bei Colombier (NE). Offenbar waren die Weichen falsch gestellt, so dass der Extrazug in einen Güterzug prallte. Nebst dem Zugführer kamen auch 22 französische Soldaten beim Unglück ums Leben. Weitere 70 wurden verletzt.
Dieses tragische Ereignis war bis zu diesem Zeitpunkt der grösste Eisenbahnunfall in der Schweiz.

Gut zu wissen
Im Buch «Denk mal – ein Denkmal» sind Angaben zu Gedenkstätten der Bourbaki-Soldaten und weitere Hinweise zu über 170 Denkmäler im Kanton Bern enthalten. Bezugsmöglichkeit: Druckerei Schürch, Huttwil. 15 Franken für UE-Abonnenten; sonst 25 Franken plus Versand-kosten.

Von Fritz von Gunten