• Seit 20 Jahren leben Pflegekinder in der Familie von Ueli und Susanne Lüthi. · Bilder: zvg

  • Die Familie Lüthi lebt kindergerecht eingerichtet und in schönster Natur auf dem Liemberg. · Bild: zvg

  • Den Lift haben Susanne und Ueli Lüthi auf eigene Kosten erstellen lassen, damit auch das obere Stockwerk rollstuhlgängig ist. · Bild: zvg

  • Die Familie Lüthi lebt kindergerecht eingerichtet und in schönster Natur auf dem Liemberg. · Bild: zvg

14.04.2020
Oberaargau

Von der Pflegefamilie zum Kleinheim

eit 20 Jahren bieten Susanne und Ueli Lüthi auf dem Liemberg, Rohrbachgraben, Kindern mit Einschränkungen ein Zuhause, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren Eltern wohnen können. Heute sind sie eine fünfköpfige Familie mit zwei eigenen und drei Pflegekindern. Zudem öffnen sie ihr Haus für zeitweilige Aufenthalte von Kindern aus Familien, die eine Entlastung benötigen. 40 Kinder waren es bisher, die hier nebst den Pflegekindern Liebe und Geborgenheit gefunden haben.

Rohrbachgraben · «Ich möchte Kindergärtnerin werden!» Nina* (15) sitzt in ihrem Rollstuhl am Tisch und gestaltet mit viel Fantasie Schublädchen einer Spanschachtel. «Sprachen mag ich sehr. Rechnen liegt mir nicht», sagt sie offen. Und ja, Kinder habe sie sehr gerne. Nebenbei treibt sie intensiv Rollstuhlsport, hat eben den Aufstieg ins Junioren-Kader geschafft.
Neben ihr, auf Papis Schoss, schneidet Kevin* (6) Figuren aus, dekoriert geschickt ein Spielzeug-Palette. «Ich habe mit Papi einen Schneepflug für meinen Traktor gebaut», erzählt er. Silvio* (15) schläft; er mag gemütliches Ausschlafen am Morgen.
Eine ganz normale Familie? Nein, nicht «ganz normal», aber eine Familie, die in den letzten 20 Jahren stark zusammengewachsen ist. Susanne Lüthi ist ausgebildete Pflegefachfrau, ihr Mann Ueli diplomierter Sozialpädagoge und Transportsanitäter.
Von Anfang an fühlte sich das Paar in soziale Bereiche berufen, half unter anderem während insgesamt 14 Monaten beim Aufbau eines Kinderdorfes in Chile. In dieser Zeit wurde Ruana geboren. Wieder zurück in der Schweiz, arbeiteten die beiden einige Zeit in der Huttwiler Wohngemeinschaft «Öpfuböimli».
Als Meret zur Welt kam, kümmerte sich Susanne ausschliesslich um die Kinder, während ihr Mann eine Arbeit im Langenthaler Kinderheim Schoren annahm und berufsbegleitend die Ausbildung als Sozialpädagoge absolvierte. Mit Ruana und Meret war die Familie aber nicht komplett; Susanne und Ueli Lüthi wollten auf dem Liemberg auch Pflegekindern ein dauerhaftes Heim bieten.

Pflegeplätze für Kinder mit Einschränkung
Bei Kursen für werdende Pflegeeltern stiessen sie auf den grossen Bedarf an Pflegeplätzen für Kinder mit einer Einschränkung. Nacheinander zogen in der Folge Nina, Silvio und das Nesthäckchen Kevin bei ihnen ein. Silvio war drei Jahre alt, die andern beiden nur wenige Monate.
Jedes brachte sein eigenes, teilweise schweres Rucksäcklein mit auf den Liemberg. Nina wurde mit einer Spina Bifida (offener Rücken) und verschiedenen Fehlbildungen geboren. Mit viel Kraft und Wille bewältigte sie ihre körperlichen Behinderungen und brachte ihr Umfeld mit ungewöhnlichen Leistungen immer wieder zum Staunen.
Als sie nach einer Operation einen Infekt erwischte und es ihr schlecht ging, kam ihr Frohmut ins Wanken. Tage- und wochenlang sassen die Pflegeeltern abwechslungsweise rund um die Uhr bei ihr im Inselspital, durften sie schliesslich für eine kurze «Auszeit» nach Hause nehmen. Von da an ging es wieder steil aufwärts. Nina fand zurück in ihre gewohnt kraftvolle und positive Lebensart.
Silvio ist weitgehend blind und leidet unter weiteren Einschränkungen, die durch eine im Babyalter erlittene Hirnblutung ausgelöst worden sind. Doch auch er hat sich über Erwarten gut entwickelt und gehen gelernt.
Kevin kehrte als kleines Baby zuerst wochen- und ferienweise auf dem Liemberg ein, bis er im Alter von wenigen Monaten ebenfalls als neues Familienmitglied hierherzog. Mit viel Liebe, Unterstützung und Verständnis gelang es den Pflegeeltern und auch den Geschwistern, ihn aus seiner eigenen Welt herauszulocken und ihm Schritt für Schritt kindliches Urvertrauen zurückzugeben.

Laufende Bautätigkeiten und Investitionen
Ueli Lüthi arbeitet teilzeit beim SRO-Rettungsdienst. Daneben ist er mit seiner Frau rund um die Uhr für die fünf Kinder da. Wichtiger Bestandteil in der Tagesstruktur sind nebst Schulen, Ausbildungen, «Taxifahrten», Therapien, Arztbesuchen, intensiver Pflege und Betreuung sowie unzähligen Rücksprachen mit Ämtern und Beratungsstellen auch «die täglichen Minuten», die sie jedem Kind einzeln widmen.
Abgesehen davon wurden im ehemaligen abgelegenen Bauernhaus laufend Bautätigkeiten notwendig, welche nicht selten in Zusammenhang mit der Pflege und Betreuung eines einzelnen Kindes standen. Die letzte grössere Investition war 2019 der Lift ins obere Stockwerk, in erster Linie für Nina, damit diese sich im ganzen Haus frei bewegen kann.
Nachdem die IV ihre Bereitschaft, einen Teil der Kosten zu übernehmen, zurückgezogen hatte, entschieden Susanne und Ueli Lüthi nach einem ersten leeren Schlucken, das Projekt auf eigene Kosten zu realisieren. «D Nina het dä Lift itz eifach bruucht», sagt Susanne Lüthi und strahlt dazu. Das glückliche Mädchen und der Nutzen des Lifts haben die finanziellen Aspekte vergessen lassen.
Seit 1. April 2019 gilt das Heim oder vielmehr das familiäre Angebot auf dem Liemberg als kantonaler Betrieb. Zusammen mit der Schwester von Ueli Lüthi als Betreuerin sowie einer Raumpflegerin, die beide teilzeitlich mitwirken, erfüllen die Lüthis die vorgeschriebenen personellen Stellen. Bis zu fünf Pflegekinder dürften hier aufgenommen werden.

Platz für Kinder zur Entlastung derer Angehörigen
«Grösser» werden aber möchten Susanne und Ueli Lüthi nicht. «Wir wollen eine Familie bleiben und möchten allen unseren Kindern die familiäre Geborgenheit erhalten.»
Dies aber als offenes Haus. Die zwei freien Plätze werden häufig von Kindern benützt, deren Eltern oder Betreuende Entlastung benötigen. Vielfach sind es dieselben Gäste, die hier mehr oder weniger regelmässig einkehren. In den letzten 20 Jahren waren es 40 Kinder, die hier nebst den eigenen und den Pflegekindern Liebe, Geborgenheit und die nötige Pflege fanden oder weiterhin finden.
Für diejenigen, deren Eltern sich die Entlastung nicht leisten können, wurde ein Spendenkonto eröffnet. An erster Stelle aber steht der Wunsch von Susanne und Ueli Lüthi, Familien zu entlasten und Kindern ein warmes Nest bieten zu können.
Die ganze grosse Familie ist gemeinsam zum ruhenden Pol für viele Kinder und Jugendliche mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen zusammengewachsen.

Weiterhin Nestwärme für alle
Wie geht es weiter, wenn die Kinder alle flügge sind? «Alle sollen hier die Nestwärme behalten dürfen», sagen die Eltern und Pflegeeltern. Jedes dürfe zurückkommen, wann immer es wolle. Dies im Wissen, dass nicht alle Ausbildungsmöglichkeiten es erlauben, täglich auf den Liemberg zurückzukehren. Die schützende und helfende Hand des Daheims wird aber jedes Kind weiterhin begleiten. «Und vielleicht ändern wir einst unsere Strategie und betreuen statt Pflegekinder Erwachsene mit einer Einschränkung. Dann kann beispielsweise Silvio auch weiterhin ständig bei uns bleiben.» Damit bleibt das Band der Familie für alle erhalten.

*Namen der Pflegekinder von der Redaktion geändert.

Von Liselotte Jost-Zürcher