• Natalia Politova ist in Kiew aufgewachsen und kam vor rund 20 Jahren in die Schweiz und ist als Tierärztin in Kleindietwil tätig. · Bild: Patrick Bachmann

  • Vollbeladen mit Hilfsgütern verliess der LKW Madiswil am 16. März in Richtung Ukraine. · Bild: Patrick Bachmann

31.03.2022
Oberaargau

Wenn der Krieg plötzlich in den Alltag einbricht

Der Krieg in der Ukraine erschüttert viele Menschen. Die Rücksichtslosigkeit und die Brutalität des russichen Angriffs machen fassungslos. So ein Krieg hinterlässt Opfer, Verletzte, Traumata, zerstörte Existenzen, geplatzte Lebensträume, getrennte Paare, zerrissene Familien. Und die Auswirkungen betreffen die ganze Welt und erreichen auch Madiswil. So trafen in den letzten Wochen bereits erste Geflüchtete ein. Die Tierärztin und schweizerisch-ukrainische Doppelbürgerin Natalia Politova aus Madiswil hat Hilfsgüter für die Ukraine gesammelt, organisiert in der Region private Unterkünfte und versucht, so gut wie möglich zu helfen. Auch, um die Sorgen angesichts ihrer Familienangehörigen und Freunde in der Ukraine mit sinnvollen Aktivitäten zu verdrängen.

Madiswil · Vom Kriegsbeginn am 24. Februar erfuhr Natalia Politova morgens durch den Anruf einer Bekannten aus der Ukraine. Die Mutter eines autistischen Sohnes fragte sie um Rat bei der Evakuierung. Seither lebt die Tierärztin Natalia Politova im Ausnahmezustand. Die erste Woche nach Kriegsausbruch stand die 45-Jährige regelrecht unter Schock. Immer wieder erreichen sie Videoaufnahmen von der aktuellen Situation in der Ukraine. Die Bilder von zerstörten Häusern, Feuer und Leichen gehen nicht mehr aus dem Kopf. «Zu Beginn konnte ich kaum schlafen und musste dauernd weinen», sagt Natalia Politova. Noch heute wacht sie meist frühmorgens auf, ist unruhig und kann dann nicht mehr einschlafen.

Ohne Strom, Wasser und Heizung
Die Invasion russischer Truppen in die Ukraine wird mit zunehmender Härte durchgeführt und richtet täglich weitere Zerstörung an. Natalia Politova kommt selber aus der Ukraine und ihre Familie und viele Bekannte leben noch immer dort. Ihre 76-jährige Mutter harrt seit Wochen in einem eher dörflichen Vorort von Kiew aus, zusammen mit der ein Jahr jüngeren Schwester. Sie sind zu alt für die Flucht und müssen jetzt ohne Strom und ohne Heizung leben, seit einigen Tagen gibt es auch kein fliessendes Wasser mehr. Das einzige Wasser kommt vom Brunnen. Niemand hätte in den letzten Jahren gedacht, dass sie nochmals den alten Holzkochherd nutzen müssen; die einzige Möglichkeit, sich ein wenig aufzuwärmen. «Ich weiss nie, ob meine Mutter noch lebt, wenn ich anrufe», erzählt sie. Vorräte sind noch vorhanden, werden aber knapp. Und der Treibstoff für den Generator im Dorf stammt aus dem Wrack eines russischen Panzers. Es sind Zustände, die im Europa des 21. Jahrhunderts kaum mehr denkbar waren.

Bleiben oder flüchten?
Natalia Politovas Bruder ist in der Nähe von Kiew, die einzige Verbindung ist das Telefon. Patrouillen überwachen die Gegend, Schützengräben werden ausgehoben. Viele Familien sind geflüchtet, aber die älteren Personen bleiben. Sie fühlen sich verbunden mit der Heimat oder sind schlicht zu schwach für eine solche Reise. Oder auch Eltern mit einem behinderten Kind können nicht einfach flüchten.
Doch in der Stadt Mariupol sind die Zustände noch drastischer. Die russischen Truppen blockieren die Stadt vollständig, zum Trinken bleibt nur Schnee, der geschmolzen wird. Tausende von Personen dürften bereits umgekommen sein. «Die meisten Verwandten sind in der Ukraine geblieben, einige von ihnen in der Nähe der Grenze.» Sie hoffen, dass der Krieg bald beendet sein würde und helfen anderen Menschen, nähen Schutzwesten oder sortieren die aus aller Welt gelieferten Hilfsmaterialien.

Engagement fast rund um die Uhr
Natalia Politova wurde nach dem ersten Schreck sofort aktiv, um die eigene Ohnmacht zu verdrängen. Sie konnte eine Tante, eine Cousine mit ihren Kindern und die Schwiegermutter nach Madiswil und Umgebung bringen. Ihr Haus wurde zerstört, die Nachbarn sind ebenfalls alle geflüchtet, das ältere Kind der Cousine leidet unter Panikattacken.
Wie konnte es soweit kommen? «Die Gefahr war mir schon länger bewusst. Die russische Propaganda wurde seit Jahren verstärkt, die Macht der führenden Eliten wurde ausgebaut und die freien Medien immer mehr eingeschränkt», sagt Natalia Politova. Doch das Ausmass der Aggression hatten wohl die meisten unterschätzt. «Die Ukraine war nicht wirklich vorbereitet auf einen solchen Krieg.»
Die besondere Tragik liegt darin, dass ein kleiner Kreis im Kreml den Überfall auf ein Land befohlen hat, das der Kreml selbst als «Brudervolk» bezeichnet. Zwischen den Menschen in Russland und in der Ukraine gab es kaum Feindschaft, viele Familien haben Angehörige und Freunde im jeweils anderen Land. Selbst Natalia Politova spricht zu Hause mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen russisch, viele Freunde stammen aus Russland. «Auch bei Protestaktionen gegen den Krieg beteiligen sich russische Freunde. Es ist schlimm, wenn nun eine russlandfeindliche Stimmung aufkommt, die sich gegen Menschen richtet. Es ist Putins und nicht Russlands Krieg!» Sie erwartet vom Westen, dass er es mit den Sanktionen endlich ernst meint und den Import von russischem Öl und Gas unterbindet. «Es kann nicht sein, dass wir damit indirekt weiterhin die russische Kriegsmaschinerie finanzieren!»

Madiswil als neue, zweite Heimat
Natalia Politova ist selbst in der Nähe von Kiew aufgewachsen. Sie hatte das Studium zur Tierärztin absolviert und danach in einer Tierarztpraxis und auch im Marketing gearbeitet. Ihr Mann Dmytro Chernushchenko hatte als Programmierer eine Tätigkeit in Madiswil gefunden, und so entschieden sie vor rund 20 Jahren, in die Schweiz zu ziehen. Natalia Politova fand umgehend eine Stelle beim Tierarzt Markus Staub und nach rund zehn Jahren für weitere fünf Jahre in der Praxis von Beat Disler in Kleindietwil. Auch sprachlich fand sie sich schnell zurecht, auch wenn das Berndeutsch für Fremdsprachige eine zusätzliche Hürde darstellt. «Ich war auch sehr motiviert und wusste, dass es ohne Deutsch nicht funktionieren würde.» Sie konnte auch auf die Unterstützung und das Vertrauen der Einwohnergemeinde und der Madiswiler Bewohnerinnen und Bewohner zählen. «Wir haben uns nie als Ausländer gefühlt. In Madiswil leben gute Menschen, das findest du nicht überall», sagt sie anerkennend.
Vor ein paar Jahren musste sie dann entscheiden, ob sie die Tierarztpraxis weiterführen will. «Eine eigene Praxis war nie mein Ziel, aber ich stand vor der Frage, ob die Praxis schliesst oder ob ich sie übernehme.» Seither arbeitet sie als Gross- und Kleintierärztin in der «Alten Post» gleich neben dem Bahnhof Kleindietwil mit drei Angestellten. Rund die Hälfte der Arbeit betrifft Haustiere, die andere Hälfte landwirtschaftliche Grosstiere wie Schweine, Ziegen, Kühe oder Schafe.

Hoffen auf das Kriegsende
Die engen Kontakte zur Ukraine brachen aber selbstverständlich nie ab, rund ein bis zwei Mal pro Jahr fährt die inzwischen in Madiswil eingebürgerte Familie in die alte Heimat.
Jetzt aber steht der Alltag plötzlich Kopf: Der Krieg in der Ukraine verändert auch das Leben hier, es bleibt fast keine Zeit mehr für die Kinder. Der Blick von Natalia Politova streift immer wieder sorgenvoll über das Handy, wo die neusten Nachrichten der Familie und vom Kriegsverlauf eintreffen. Erschöpft versucht sie, die Arbeit, den Familienalltag und das unermüdliche Engagement für die Hilfsaktionen und für die Unterbringung von Geflüchteten zu bewältigen. Aber eine richtige Erholung würde wohl nur das Kriegsende bringen.

Unendlich dankbar für die breite Unterstützung!
Mit Flugblättern haben die Tierärztin Natalia Politova und der Tierarzt Markus Staub zusammen mit anderen Helferinnen und Helfern zu Sach- und Geldspenden aufgerufen. Aufgeführt war eine Liste mit den in der Ukraine dringend gebrauchten Gütern. So zum Beispiel Medikamente, Verbandsmaterial, Batterien, Windeln, Hygieneartikel, Babynahrung oder langhaltbare Nahrungsmittel.
Innerhalb weniger Tage kamen so über zwanzig Tonnen Hilfsmaterial zusammen. «Wir waren von der Hilfsbereitschaft überwältigt und sind extrem dankbar!», sagt Politova. Viele Menschen haben auch Geld gespendet, zum Beispiel für den Transport und weitere Güter. «Ich arbeite nur mit Leuten zusammen, die ich kenne. Deshalb kann ich garantieren, dass das Material auch wirklich ans Ziel kommt und gebraucht wird.»
Am 16. März wurde das Material in einen grossen Lastwagen der Osteuropahilfe geladen, der sich danach auf den Weg an die ukrainische Grenze machte. Wird es nochmals einen solchen Transport brauchen? «Wenn nötig, werden wir dies wiederholen und noch mehr Material organisieren», sagt Natalia Politova.
Aber auch hier brauche es jetzt Hilfe für die Kriegsflüchtlinge. «Alle, die eine Wohnung, ein Zimmer oder eine andere adäquate Unterbringungsmöglichkeit für Geflüchtete haben, können sich bei uns melden. Wir sind so dankbar für alle Angebote und Spenden!»
Seit dem Beginn der Angriffe der russischen Armee bangt die ukrainische Bevölkerung um ihre plötzlich ungewiss gewordene Zukunft. Um das Ausmass der sich abzeichnenden humanitären Krise zu bewältigen, appellieren verschiedene Organisationen um Ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung.
Spenden für direkte Hilfslieferungen an: IBAN CH67 0631 3016 1800 6270 2, Betreff: Hilfe an Ukraine.
Spenden an die Sammlung der Glückskette: IBAN CH82 0900 0000 1001 5000 6, Betreff: Ukraine.

Auch Tiere leiden im Krieg
Nicht nur Menschen, auch die Tiere sind Opfer des Kriegs. Ob Wildtiere, Tiere im Zoo oder Haustiere. «Viele Tiere sterben, weil kein Futter mehr vorhanden ist oder sie von Geflüchteten zurück­gelassen werden mussten», weiss Natalia Politova. Sie hat ein Herz für Tiere und zeigt sich auch hier aktiv: Über die welttierärztliche Organisation wurden in der Schweiz bereits 20 Praxen gefunden, die Haustiere von Geflüchteten kostenlos untersuchen und registrieren. Politova hilft mit Übersetzungen und hat selber mehrere Fälle betreut. «Ein Welpe musste zum Beispiel viele Tage in einer kleinen Kiste im Luftschutzkeller bleiben, holte sich so eine Lungenentzündung und musste hier dringend behandelt werden.» 60 Haustiere aus der Ukraine konnten in einem Tierheim in der Slowakei untergebracht werden. Auch für die Betreuung von Haustieren ist man auf Unterstützung der Bevölkerung angewiesen.

Von Patrick Bachmann