• Damian Meli: «Wir können in Huttwil nicht das Gesundheitswesen ändern, aber wir können ein Zeichen setzen.» · Bild: Thomas Peter

29.09.2020
Huttwil

«Wir sind an unsere Grenzen gestossen»

Dieser Tage haben die Hausarztpraxis Huttwil und die Bahnhofpraxis in Langenthal einen Aufnahmestopp für neue Patientinnen und Patienten verfügt. Diese müssen sich auf eine Warteliste setzen lassen. Hausarzt Damian Meli in Huttwil macht dafür den seit längerem anhaltenden Personalmangel in Hausarztpraxen auf dem Land geltend. Er kritisiert dabei vor allem auch die mangelnde Unterstützung seitens mancher Krankenkassen.

Huttwil · Damian Meli, Sie haben für die Hausarztpraxen in Huttwil und Langenthal  einen Aufnahmestopp für neue Patienten beschlossen. Weshalb?
Es ist eigentlich eher überraschend, dass wir bis jetzt ohne Patientenstopp durchkommen konnten. Andere Praxen, etwa in Zell, Madiswil oder Dürrenroth haben diesen Schritt zum Teil schon vollzogen. Das hat uns natürlich immer auch betroffen, weil immer wieder neue Leute plötzlich bei uns angeklopft haben. Wir haben ständig neue Patienten aufgenommen
und aufgenommen. Und jetzt sind wir personell an Kapazitätsgrenzen gestossen.Verschiedene Hausärzte in der Region haben das Pensionsalter längst überschritten. Wir sind wirklich sehr, sehr froh, dass sie immer noch praktizieren. Aber es ist fast aussichtslos, dass sie einen Nachfolger finden werden. Ihre Patienten werden früher oder später in Huttwil oder Langenthal landen. Es gibt manchmal Freaks, Einzelkämpfer, die allein eine Praxis auf dem Land übernehmen. Das ist gut so und das braucht es auch. Aber das wird die grosse Ausnahme bleiben.

Wie kam es zu diesem Entscheid?
Der konkrete Auslöser für den Aufnahmestopp waren die Verhandlungen mit der CSS-Versicherung, die nicht bereit war, mit uns einen sogenannten Managed Care Vertrag, einen Hausarztvertrag abzuschliessen. Es geht um die so genannten PPM-Beiträge, das sind Beiträge pro Patient und Monat, die uns manche Krankenkassen geben, um Patienten zu managen. Das sind keine grossen Beträge: Es geht pro Patient um einen Franken bis zweieinhalb Franken pro Monat. Mit der Visana haben wir beispielsweise etwa 2000 Versicherte. Das finanziert uns etwa eine halbe MPA-Stelle (medizinische Praxisassistentin) pro Monat. Das ist nicht sehr viel, aber immerhin.
Es hat mich aber so genervt, dass sie darauf nicht einsteigen wollten. Es sind fixe Standard-Verträge, die man nur aus der Schublade ziehen kann. Die Verhandlung fand während der Corona-Zeit statt, eine Video-Konferenz, und die Leute von der Krankenkasse fanden, ein Vertrag sei nicht nach ihrem Gusto. Irgendwelche Gesundheitsökonomen, die im Homeoffice sitzen, entscheiden darüber, ob man mit Hausarztpraxen, die wie wir in einem kleinen Netzwerk arbeiten, einen Vertrag abschliessen will, oder ob wir zu klein und finanziell für sie nicht interessant sind. Ich habe deshalb entschieden, dass wir handeln müssen, dass wir zeigen, dass die Gesundheitsversorgung auf dem Land, die für die Leute da ist, ihren Wert hat. Für uns war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Welche konkreten Konsequenzen hat Ihr Entscheid für die Patienten?
Für die Patienten, die schon bei uns sind, hat der Aufnahmestopp keine Konsequenzen, und es ist ganz klar, dass wir im Notfall immer für alle Patienten da sind. Bei anderen Patienten werden wir aber wohl vermehrt darauf achten, wo sie wohnen, ob sie bereits einen Hausarzt haben oder ob es einfach ein Komfortwechsel ist, weil sie mit ihrem Hausarzt nicht mehr zufrieden sind. Patienten, die nicht dringend auf Hilfe angewiesen sind, werden wir künftig auf eine Warteliste setzen, um die Überkapazitäten steuern zu können.

Kommen wir noch einmal auf die Krankenkassen zurück. Wo liegt hier das Problem genau?
Ein Patientenstopp ist für die Versicherungen vor allem aber auch ein Zeichen, dass die Hausärzte nicht alles abfedern können. Fast alle Krankenkassen fahren im Moment voll auf Digitalisierung und Telemedizin ab, am besten noch mit Versandapotheke. Für manche ist ein Modell, das Hausarztmedizin auf dem Land fördert, nicht wirklich «sexy».
Die Problematik ist folgende: wir haben im Moment etwa drei- bis viermal mehr Patienten als Ueli Löffel, mein Vorgänger, als ich bei ihm einstieg. Schon damals war das eine grosse Praxis. Seither ist es uns dank guten Bedingungen und guten Löhnen gelungen, neue Ärzte zu gewinnen, die zum Teil auch aus anderen Kantonen nach Huttwil und Langenthal kommen. Aber mittlerweile bezahlen andere Gemeinschaftspraxen ihre Mitarbeiter auch gut, während wir hier Standortnachteile haben.
Die jungen Ärzte wollen heute urban leben, irgendwo in einer grösseren Stadt, und die  meisten jungen Ärztinnen und Ärzte wollen heute Teilzeit arbeiten. Man arbeitet heute anders. Und dann findet in der Medizin auch eine Feminisierung statt. Mehr als die Hälfte der Studienabgänger sind heute Frauen, die nicht mehr Vollzeit arbeiten wollen. Das führt unweigerlich zu einem Mangel an Fachkräften. Die Zeiten, in denen ein Hausarzt pro Tag 50 Patienten betreute, sind vorbei. Der Nachfolger, der vielleicht 60 Prozent arbeitet, will sich nicht mehr Patienten im Fünf-Minuten-Takt anschauen.
 
Sie leiden unter Personalmangel, woran liegt das? Ist die Hausarztmedizin für junge Ärzte nicht mehr attraktiv?
Selbst wenn wir sehr kompetitive Löhne zahlen können, bekommen wir meist keine einzige Bewerbung, wenn wir eine Stelle ausschreiben. Dessen muss man sich einfach bewusst sein und ein Zeichen setzen. Dabei gäbe es sehr wohl Steuerungsmöglichkeiten. Einzelne Krankenkassen haben schon getestet, wie man Hausarztpraxen auf dem Land beispielsweise mit höheren Taxpunkten attraktiver machen könnte. Die Hausarztverträge wären eine optimale Steuerungsmöglichtkeit.
Wenn die Kassen die Hausarztpraxen auf dem Land beispielsweise mit einem höheren Patient pro Monat Betrag unterstützen würden als in der Stadt, könnten sie die Hausarztmedizin auf dem Land attraktiver machen. Das könnte auch der Tarmed-Tarif sein oder irgend etwas. Letztendlich läuft es immer auf einen monetären Grund hinaus, aber nur so kann man die Hausarztmedizin auf dem Land attraktiver machen.

Und wie macht man die Hausarztmedizin auf dem Land für junge Ärzte attraktiver?
Wir müssen vergleichsweise attraktivere Rahmenbedingungen bieten für einen Arzt, damit er hierher kommt, und nicht eine Stelle in der Stadt annimmt. Wir kämpfen im Moment mit sehr ungleichen Spiessen. Wenn wir sehen, dass eine Versicherung wie die CSS Verträge mit anderen Netzwerken abschliesst, aber mit uns nicht, dann müssen wir uns schon Gedanken machen, ob wir nicht den Service einschränken müssen. Vielleicht müssen wir eine Wartefrist für nicht dringliche Probleme einführen. Ein Lösungsansatz wird sicher sein, dass wir versuchen, möglichst viele Patientinnen und Patienten in  einem Hausarztmodell zu versichern.

Zu einem Kassenwechsel zwingen können Sie aber doch niemanden?
Wir müssen natürlich die rechtlichen Bedingungen berücksichtigen. Es gibt einen Vertragszwang zwischen den Leistungserbringern und den Krankenkassen. Wir sind uns bewusst, dass wir Patienten nicht nach der Krankenkasse oder dem Versicherungsmodell diskriminieren dürfen. Aber wir dürfen sie durchaus darauf aufmerksam machen, dass sie uns mit einem Wechsel zu einer anderen Kasse oder einem anderen Modell unterstützen könnten. Das wären etwa die Visana, die Sumiswalder, die Swica oder die Concordia. Wir können auch vermehrt darauf achten, wie dringlich ein Problem ist, ob jemand betagt ist, in der Region wohnt und auf ärztliche Hilfe angewiesen ist.
Es gibt Krankenkassen, die honorieren, wenn die Hospitalisationsrate möglichst tief ist und wir gute Arbeit leisten. Es gibt aber auch Kassen wie die CSS, die behaupten, man könne so keine Einsparungen vornehmen und deshalb nicht mehr auf solche Modelle setzen. Es geht ja nicht nur darum, Geld einzusparen, sondern die Medizin auf dem Land zu unterstützen. Wir werden wahrscheinlich die Patienten, die bei der CSS versichert sind, anschreiben, darauf aufmerksam machen, dass wir mit ihrem Versicherer im Moment kein gutes Verhältnis haben, und sie ermuntern, allenfalls die Kasse zu wechseln.

Können Sie es sich den wirklich leisten, sich mit grossen Krankenkassen anzulegen? David gegen Goliath?
Wir können in Huttwil nicht das Gesundheitswesen ändern. Aber wir können vielleicht ein Zeichen setzen. Wir sind an unsere Grenzen gestossen. Früher konnte ich mal zwei oder drei Wochen Ferien nehmen. Das liegt heute fast nicht mehr drin. Wenn wir wieder einmal einen neuen Arzt einstellen könnten, würde sich die Situation vielleicht ändern. Aber im Moment müssen wir uns selber schützen. Wir müssen zu uns selber Sorge tragen. Denn wenn uns die Ärzte noch davonlaufen, haben wir definitiv ein Problem.

Wie können Sie sich denn selber schützen?
Ich habe heute eine Art Bleistiftstreik angefangen. Wenn irgendwelche Versicherungen Berichte anfordern, muss ich das nicht unverzüglich erledigen. Es ist immer ein Geben und ein Nehmen. Wenn bei einer Kooperation ein Partner findet, unsere Themen interessierten ihn nicht, dann interessieren uns seine Themen vielleicht auch grad nicht. Ich habe gerade eine Anfrage erhalten für einen Bericht, ob ein Patient sich privat versichern könne, wie die Risiken sind usw. Die Kasse schert sich einen Deut um uns. Dann mache ich halt mal nichts. Es kann mich niemand dazu zwingen. Diese Arroganz ist keine Art und Weise, miteinander zusammenzuarbeiten. Entscheide, die von irgendwelchen Managern getroffen werden, haben immer auch Konsequenzen. Und mit diesen Konsequenzen müssen sie leben. Sie müssen spüren, dass die «firmenpolitischen» Entscheide, die sie in ihren Büros fällen, bei den Hausarztpraxen, den Versicherten und den Patienten nicht gut ankommen. Das ist wohl die einzige Sprache, die sie verstehen.

Führt aber ein Patientenstopp nicht zwangsläufig dazu, dass die Notfalldienste in den Spitälern vermehrt in Anspruch genommen werden, auch für Probleme, die eigentlich gar nicht auf den Notfall gehören?
Natürlich führt das manchmal dazu, dass die Leute direkt auf den Notfall im Spital gehen. Aber das ist nicht wirklich unser Problem. Wenn die Hausarztmedizin die Notfälle nicht mehr abfedern kann, dann werden die Patienten zunehmend den Notfall im Spital in Anspruch nehmen.
In England wurde das Gesundheitssystem vor etwa 20 Jahren darauf umgestellt, die Hausarztmedizin finanziell besser zu unterstützen, mindestens gleich gut wie einen Spezialisten. Wenn sich junge Ärztinnen und Ärzte zunehmend für eine Spezialisierung entscheiden, führt das zwangsläufig zu einem Mangel bei der Hausarztmedizin.

Hat sich aber nicht auch das Selbstverständnis bei den jungen Ärzten verändert? Man will in einem grösseren Spital arbeiten, als Spezialist, weil das bequemer und lukrativer ist?
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt im Moment bereits wieder einen Trend Richtung Hausarztmedizin. Natürlich ist es während dem Studium reizvoll, sich für eine Spezialität zu interessieren, beispielsweise Herzmedizin, die ein hohes Prestige geniesst. Aber es gibt durchaus auch Anzeichen, dass sich mehr junge Mediziner für unsere Fachrichtung interessieren. Aber das löst unser Problem auf dem Land im Moment noch nicht. Es dauert 15 Jahre ab Studienbeginn, bis ein Mediziner in einer Praxis einsteigen kann. Bis dann bin ich schon fast pensioniert.

Sehen Sie einen Weg, wie man das Problem konkret lösen könnte?
Eine Lösung für uns wäre, dass zusätzliche Krankenkassen mit uns einen Managed Care Vertrag abschliessen. Die CSS hat dies abgelehnt. Die Gespräche mit der Helsana stehen noch aus. Ein Managed Care Vertrag kostet die Kassen nicht wirklich viel, aber es würde uns sehr helfen. Daneben sind wir natürlich immer auf der Suche nach neuen Leuten. Wir versuchen beispielsweise auch, bestimmte Aufgaben an unsere medizinischen Pra-xisangestellten zu delegieren. Aber auch das hat seine Grenzen. Tatsache ist, dass die Leute heute älter werden und mehr Betreuung benötigen. Eine Patentlösung habe ich leider auch nicht.

Daniel Fuchs im Gespräch mit Damian Meli, Hausarzt in Huttwil.