• Ein grosser Märchenerzähler, der Kinder und Erwachsene in seinen Bann zieht: Hasib Jaenike, im «märchenhaften» Garten in seinem Heim in Trachselwald. · Bild: Elsbeth Anliker

21.08.2019
Emmental

Wo unser Märchenschatz gehütet wird

Hinter der Renaissance des Märchenerzählens in der Schweiz steht Hasib Jaenike, der Gründer der Mutabor Märchenstiftung in Trachselwald. Eine von der Stiftung aufgebaute Online-Datenbank umfasst über 3500 Schweizer Märchen, aufbauend auf Otto Sutermeisters erster Schweizer Märchensammlung – deren 150-Jahr-Jubiläum heuer gefeiert wird.

Trachselwald · Erzählt Hasib Jaenike Märchen, wie etwa im Kellertheater Langnau, tauchen die Menschen ein in eine wundersame Welt, in der Tiere mit Menschen reden, Prinzen arme Bauerstöchter retten und alles meist ein gutes Ende nimmt. «Märchen berühren die Seele der Menschen», weiss er, «sie nehmen Menschen mit in ein Universum, in dem alles möglich ist und zuletzt immer das Gute über das Böse siegt – und das seit Jahrhunderten.» Hasib Jaenike hat kluge lebendige Augen und eine ruhige Ausstrahlung. Man fühlt sich gleich wohl in seiner Gesellschaft und lauscht gerne seiner angenehmen Stimme. «Märchen sind die älteste lebendige Tradition der Menschheit und haben auch heute nichts von ihrem Zauber verloren», sagt der Märchenexperte. Zusammen mit seiner Frau gründete er vor 15 Jahren die Mutabor Märchenstiftung mit Sitz in Trachselwald.

Märchen trösteten
Märchen und Sagen waren früher ein wichtiger Bestandteil des Lebens. «Sie gaben den Menschen Hoffnungen in kalten Wintern oder Hungerzeiten», erzählt Hasib Jaenike. «Es sind Mutmach-Geschichten, die Trost spenden.» Trost brauchte Hasib Jaenike früh in seinem Leben. Er wurde 1949 in den Nachkriegswirren in Ostdeutschland geboren. Die Familie hatte ihre Existenz verloren. Mitte der 1950er-Jahre flüchtete sie mit ein paar Habseligkeiten nach Westdeutschland. Als Besitz blieb dem damals sechsjährigen Buben nur ein Märchenbuch der Brüder Grimm. «Mein Grossvater hat es mir geschenkt; es war ein zauberhaftes Buch, wunderschön illustriert», erinnert sich der 70-Jährige noch genau. In den kalten, trostlosen Jahren, in denen Hasib Jaenike in Flüchtlingsbaracken leben musste, war das Märchenbuch sein kostbarstes Gut. «Ich hütete es wie einen Schatz und lernte damit lesen.»
Viel später studierte Hasib Jaenike Psychologie und arbeitete 15 Jahre lang an mehreren Krankenhäusern in Deutschland als Dozent für Psychologie und Pädagogik. Als er zufällig einer Märchenerzählerin zuhörte, erinnerte er sich schlagartig wieder an sein Märchenbuch. Und ihm wurde immer deutlicher bewusst: «Märchen bergen Kräfte in sich, die viel stärker und umfassender wirken als die akademische Psychologie; denn Märchen berichten immer vom Überwinden der Not.» Sie seien Wegbegleiter, Orientierungshilfen und pädagogisch sehr wertvoll, ist Hasib Jaenike überzeugt. Und er machte seine Leidenschaft für Märchen zum Beruf. Durch einen glücklichen Zufall, wie er es ausdrückt, lernte er die angehende Lehrerin und heutige Frau Djamila kennen. Durch sie kam er in die Schweiz und zusammen gründeten sie eine Schule für Märchen und Erzählkultur und bilden seither Erzählerinnen und Erzähler aus. Seit 20 Jahren lebt das Ehepaar, Eltern zweier Söhne, in Trachselwald.

Die Märchen-Online-Datenbank
Hasib Jaenike ist ein grosser Märchenerzähler, der mit Sprache und Stimme, die Kraft der Märchen zur Entfaltung bringt und so die Zuhörenden in seinen Bann zieht. In der Schweiz hätten verschiedene Sammler zahlreiche spannende Märchen hinterlassen – mit regionalen Besonderheiten und in regionalen Dialekten, erzählt er und veranschaulicht: So heisse zum Beispiel das Schweizer Rumpelstilzchen «Hans-Öfeli-Chächeli» oder das Aschenputtel ist das «Aschengrübel». Es gibt «Bergmännlein» und «Gletscherfeen» neben vielen anderen geheimnisvollen Wesen. Hasib Jaenike hat mit vielen Helfern in ungezählten Arbeitsstunden aus diesem Fundus der überlieferten Märchen eine wohldurchdachte Online-Datenbank aus allen Landesteilen aufgebaut. Die Datenbank bietet eine akribisch genaue Suchfunktion nach Sammler, Region und Stichwort. «So kann man eine wunderbar märchenhafte Reise durch die Schweiz machen», freut er sich. Hinter seinem Engagement steckt viel Herzblut und Sachverstand. Der Schweizer Märchenschatz ist ein Projekt der Mutabor Märchenstiftung und steht unter dem Patronat der Schweizerischen UNESCO-Kommission.

Als die «Märchenzeit» begann
Ursprünglich waren Märchen nur für Erwachsene gedacht, bis vor zweihundert Jahren gab es noch keine Märchen für Kinder. Auch wurden die meisten Märchen nur mündlich überliefert. Handwerker und Wanderer zogen dazumal durch das Land und erzählten Märchen und Sagen. Die Kinder sas-sen bei den Erwachsenen und hörten zu. Die Brüder Grimm waren die ersten, die in ihrer Märchensammlung Märchen für Kinder integrierten. Bereits die erste Auflage von 1812 war ein grosser Erfolg. «Heute ist es die berühmteste Märchensammlung der Welt, das meistgedruckte Buch nach der Bibel, in alle Sprachen der Welt übersetzt – ein Weltkulturerbe!», begeistert sich Hasib Jaenike.
Im Jahr 1869 erschien das erste Schweizer Märchenbuch – mit 56 Texten, davon 22 in Mundart. Herausgeber war Otto Sutermeister, Dialektforscher und Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Bern. Dieses grosse Werk nach dem Vorbild der Brüder Grimm nannte Otto Sutermeister: «Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz». Heuer feiert die Mutabor Märchenstiftung das 150-Jahr-Jubiläum dieser ersten Märchensammlung der Schweiz.
Um die Tradition der Erzählkunst weiterzuführen, findet bereits das elfte Mal die Zeit der Schweizer Erzählkunst statt. Hierzu finden das ganze Jahr zahlreiche Anlässe rund um das Thema «Wunsch und Wirklichkeit» zum Internationalen Jahr der Mässigung statt. «Ein passendes und aktuelles Motto», freut sich Hasib Jaenike.  Märchenerzählen erlebt in der Schweiz eine Renaissance, was sicherlich mit ein Verdienst von Hasib Jaenike ist. Und obwohl die meisten Märchen ursprünglich nur für Erwachsene gedacht waren, profitieren heute vor allem Kinder davon. Märchen seien nämlich ein «Zaubermittel fürs Kin-derhirn», schrieb der Hirnforscher Gerald Hüther in der Fachzeitschrift «Märchenforum». Märchen würden die Kreativität fördern, Mut machen und das Selbstvertrauen stärken – und das Zuhören beruhigt», ist auch Hasib Jaenike überzeugt. Er drückt es so aus: Gerade in unserer digitalisierten und schnelllebigen Zeit bestehe das Bedürfnis, innezuhalten und geistige Nahrung aufzunehmen. «Dieses Bedürfnis können Märchen stillen, weil sie ein Gefühl von Zeitlosigkeit vermitteln.» Er weiss: «Märchen tun Kindern und Erwachsenen gut.»

Märchenstiftung: Märchen-Angebote
Im Jahr 2003 gründeten Hasib Jaenike und seine Frau die Märchenstiftung Mutabor. Dem Stiftungsrat gehören sechs Erzählende aus verschiedenen Berufen an, die ihr Wissen in die Projekte der Stiftung einfliessen lassen. Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, die alten Volksmärchen wieder zum Leben zu erwecken. In der Schule für Märchen und Erzählkultur werden Märchenerzähler ausgebildet – bis heute mehr als 400 in der Deutschschweiz. Sie können für kulturelle Anlässe, Feste, Jubiläen oder von Schulen und Kindergärten gebucht werden.
Das Angebot «Sterntaler» fördert zudem das Erzählen für pflegebedürftige Menschen in Institutionen oder zu Hause. Die Stiftung gibt vierteljährlich die Fachzeitschrift «Märchenforum» heraus; sie kann abonniert werden. In «Märchen-Lesebibliotheken» – darunter auch ein mobiler Märchenwagen – stellt die Stiftung über 5000 Bücher zur Verfügung. Zudem gibt die Stiftung Bücher heraus, zuletzt «Wintermärchen» mit Geschichten aus aller Welt. Mutabor ist das Zauberwort aus «Kalif Storch» und bedeutet aus dem Lateinischen übersetzt: «Ich werde verwandelt werden.» info(at)maerchenstiftung.ch / www.maerchenstiftung.ch.eag

Von Elsbeth Anliker